Harvard-Ökonom über die Eurokrise: Dreifacher Staatsbankrott
Für Griechenland, Irland und Portugal prognostiziert US-Bestseller-Ökonom Kenneth Rogoff die baldige Insolvenz. Auch Spanien sei nicht weit davon entfernt.
BERLIN taz | Wie viele angelsächsische Gelehrte hält Kenneth Rogoff witzige Vorträge mit hübschen Anekdoten. "Was sollen wir gegen die gigantischen Staatsschulden unternehmen?", sei er kürzlich von Besuchern eines Vortrages gefragt worden, erzählte der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. "Wahrscheinlich werden die Steuern steigen", antwortete Rogoff. "Meine auch?", so die Reaktion des Besuchers.
Ausmaß und Folgen der stark steigenden Staatsverschuldung in den USA und Europa seien den meisten Bürgern und Politikern nicht klar, erklärte Rogoff bei einem Vortrag am Mittwochabend im Bundesfinanzministerium. Dieses Defizit lasse sich aber schnell beheben, deutete der nicht uneitle Harvard-Ökonom augenzwinkernd an und projizierte das Cover seines aktuellen Bestsellers an die Wand des Saales: "Dieses Mal ist alles anders" analysiert die Geschichte der weltweiten Staatspleiten seit dem 14. Jahrhundert.
Eine Lehre daraus: Die Höhe der Schulden in vielen vermeintlich reichen Ländern hätten auch infolge der Finanzkrise mittlerweile Dimensionen erreicht, bei der in früheren Fällen eine Staatspleite, Inflation oder eine andere Form des Zahlungsausfalls eingetreten wäre.
Die gesamte öffentliche und private Verschuldung der USA Anfang 2010 bezifferte Rogoff beispielsweise auf rund 350 Prozent der dortigen Wirtschaftsleistung - etwa 55 Billionen US-Dollar (55.000 Milliarden). Um diese Summe zurückzuzahlen, müsste die USA-Bevölkerung also dreieinhalb Jahre ausschließlich für diesen Zweck arbeiten und dürfte nichts essen, trinken oder anderweitig konsumieren.
In Europa sieht es ein bisschen besser aus. Aber dass mindestens Griechenland, Irland und Portugal am Rande der Pleite stehen, ist für Rogoff klar. Dort sei es "unvermeidlich", einen Teil der Schulden zu annullieren, also den berühmten Haircut anzusetzen. Das heißt: Die Investoren und Bürger, die Staatsanleihen dieser Länder gekauft haben, bekommen am Ende der Laufzeit der Papiere nicht 100 Prozent ihres eingesetzten Kapitals zurück, sondern vielleicht nur 50 oder 70 Prozent. Und auch Spanien sei vom Bankrott bedroht, so Rogoff.
Dabei kann die Entschuldung verschieden aussehen: Ein Staat erklärt offiziell seine Zahlungsunfähigkeit. Oder er rettet sich in die Inflation: Die jeweilige Notenbank toleriert eine höhere Geldentwertung, reduziert so aber nicht nur die Staatsschulden, sondern auch die privaten Vermögen. Diese Möglichkeit sei in Europa allerdings ausgeschlossen: Die Europäische Zentralbank nehme die Inflationsbekämpfung sehr ernst. Ein dritter Weg ist es, früher zugesagte öffentliche Ausgaben zu kürzen, etwa Renten.
Auf jeden Fall ein Schock
Eine offizielle Umschuldung, wie sie Rogoff für einige Euro-Staaten kommen sieht, sei in jedem Fall ein "Schock". Denn nicht nur Banken verlören Geld, sondern auch Bürger, die Staatsanleihen besäßen. Weitere Folgen: teurere Kredite, weniger Investitionen, weniger Jobs.
Und was soll Europa jetzt tun? Griechenland, Irland und Portugal sofort in die Pleite schicken, Hilfe verweigern? Rogoff hielt sich zurück: "Ich bin Akademiker." Taktische Ratschläge wolle er dem gespannt wartenden Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter nicht geben. Nur so viel: Je länger man warte, desto teurer werde es.
Und noch eine Schlussfolgerung seiner Forschungen wollte Rogoff platzieren: Er halte es für falsch, wenn, wie in der Finanzkrise geschehen, der Staat die Schulden bankrotter Privatinvestoren und Banken übernehme und garantiere. Denn das Ende sehe immer so aus: Irgendwann sei der Staat selbst pleite.
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