Harvard-Historiker über den Krieg: „Noch gibt es Hoffnung für die Ukraine“
Harvard-Historiker Serhii Plokhy erklärt, was Donald Trumps Wahl für den Krieg in Osteuropa bedeutet – und welche Rolle Deutschland jetzt hat.
taz: Mr. Plokhy, wie haben Ihre ukrainischen Freunde und Verwandten auf Donald Trumps Wahlsieg reagiert?
Serhii Plokhy: Es dominiert die Besorgnis darüber, wie und ob die Vereinigten Staaten die Ukraine zukünftig unterstützen werden. Aber Trumps zweite Amtszeit geht mit viel Ungewissheit einher – noch gibt es auch Hoffnung, dass sich das Blatt für die Ukraine zum Positiven wenden könnte.
67, ist ein amerikanisch-ukrainischer Historiker. Plokhy wurde als Sohn ukrainischer Eltern in Russland geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Saporischschja. Er studierte Geschichte und Sozialwissenschaften in Dnipropetrowsk, lehrte später in Alberta, Kanada. Seit 2007 ist er Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard University.
taz: Warum?
Plokhy: Schon in seiner ersten Amtszeit hat Trump der Ukraine Waffen geliefert. Ich denke, er wollte nicht als verantwortlich für weitere mögliche Verluste in der Ukraine hingestellt werden nach der Annexion der Krim. Und der Kandidat Trump hat im Frühjahr 2024 die Verabschiedung des riesigen 60-Milliarden-Dollar-Hilfspakets für die Ukraine nicht mehr weiter torpediert. Wir wissen nicht, was wir erwarten können, wir wissen nicht, ob wir diesen Trump erleben werden.
taz: Joe Biden hat kurz vorm Ende seiner Amtszeit eine Art „Schlussoffensive“ gestartet …
Plokhy: … ja, Bidens Ukrainepolitik funktionierte in den ersten beiden Jahren des russischen Angriffskriegs gut. Im Jahr 2024 aber nicht mehr, weil es etwa erhebliche Verzögerungen bei der Lieferung bereits zugesagter Waffen oder Beschränkungen beim Einsatz der gelieferten Waffen gab. Nun hat die Biden-Regierung die Beschränkungen nach den Wahlen plötzlich aufgehoben, die Ukraine konnte ATACMS-Raketen einsetzen.
taz: Was ist davon zu halten?
Plokhy: Die Ukraine zu schützen und zu verteidigen, ist ein sehr wichtiger Teil von Bidens politischem Vermächtnis. Er möchte nicht in Erinnerung bleiben als der Präsident, der der Ukraine nicht das zur Verteidigung gegeben hat, was sie zur Verteidigung braucht. Aber das zeigt auch, dass die Gründe für all die Verzögerungen der Waffenlieferungen zuvor vorgeschoben waren.
taz: Für wie wahrscheinlich halten Sie ein „Einfrieren“ des Konflikts und einen Frieden mit massiven Zugeständnissen seitens der Ukraine nach Trumps Inauguration?
Plokhy: Es scheint der Plan der nächsten US-Regierung zu sein, den Krieg an der aktuellen Frontlinie einzufrieren und vorzuschlagen, dass die Ukraine in einem Zeitraum von vielleicht 15 bis 20 Jahren nicht der Nato beitreten wird. Die Frage ist, ob das umgesetzt werden kann. Das erklärte Ziel Russlands ist es, die Gebiete Saporischschja, Cherson, Luhansk und Donezk vollständig zu kontrollieren. Das ist noch nicht erreicht. Darauf würde Putin mindestens bestehen, und es ist die Frage, wie lange sich seine Ambitionen auf diese vier Oblasten beschränken. Die potenziellen Pläne der Trump-Regierung sind nicht sehr realistisch.
taz: Sie meinen auch den Plan des designierten US-Sondergesandten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg?
Plokhy: Ja. Der Plan, der im Mai vergangenen Jahres von Kellogg mitverfasst wurde, sieht einen Waffenstillstand vor, der den Nato-Beitritt der Ukraine verzögert und dem Land Sicherheitsgarantien bietet. Kellogg ist gegen groß angelegte Militärhilfe für die Ukraine und die Beteiligung von US-Truppen an militärischen Konflikten. Er hat einen Plan, um die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen, aber keinen klaren Plan, wie Putin dazu gebracht werden kann, seinen Bedingungen zuzustimmen.
taz: Was bedeutet die Nominierung von Keith Kellogg?
Plokhy: Wir wissen jetzt, was genau Trump über das Kriegsende denkt. Statt allgemeiner Aussagen über das Kriegsende durch eine Verhandlungslösung kennen wir nun Details.
taz: Der zukünftige US-Vizepräsident J. D. Vance hat einen ähnlich unvorteilhaften Frieden für die Ukraine skizziert, mit Gebietsverlusten, einer entmilitarisierten Zone und einem Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft.
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Plokhy: Das wäre nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa fatal. Wenn die Ukraine keine Perspektiven für eine Nato-Mitgliedschaft bekommt, ist es fast garantiert, dass dieser Konflikt möglicherweise als noch größerer Krieg auf Europa zurückfällt. Wir haben gesehen, was auf den Friedensplan für Georgien und auf die Minsk-Abkommen gefolgt ist. Vances Plan ist auch schlecht für die USA, weil er die amerikanische Führungsrolle in der Welt und das wirtschaftliche und politische Ansehen der USA gefährdet. All das könnte China ermutigen, aggressiver zu agieren, zum Beispiel in Taiwan. Putin würde mit dieser Art von Frieden belohnt für das, was Russland in der Ukraine getan hat. Es gäbe kein Stoppsignal, er würde weitermachen. Russland wird aber erst aufhören, wenn es aufgehalten wird. Das geht nur mit einer militärisch und wirtschaftlich starken Ukraine – nicht durch ein Stück Papier, das in Brüssel oder Washington unterzeichnet wird. Ein schnelles Kriegsende und Trumps Versprechen, den Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden, halte ich sowieso für absurd.
taz: Warum?
Plokhy: Nehmen Sie den Koreakrieg in den frühen 1950er Jahren. Es dauerte zwei bis drei Jahre, bis ein Frieden und eine Teilung Koreas erreicht waren. Es brauchte dazu einen Führungswechsel in Moskau und in Washington, den Tod Stalins und die Wahl von Präsident Eisenhower. Wenn man sich das Ende des Vietnamkrieges ansieht, hat es sogar zwei amerikanische Regierungen unter Präsident Johnson und fünf Jahre unter Präsident Nixon gebraucht, um zu einem Abzug der US-Truppen zu gelangen. Ein Plan für Verhandlungen ist auch nicht gleichzusetzen mit dem Beginn von Verhandlungen. Und was am Ende das Ergebnis ist, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt. Ich glaube deshalb, man kann derzeit keine seriösen Prognosen abgeben.
taz: Talkshowmoderator Pete Hegseth soll Verteidigungsminister werden, er hielt die Unterstützung der Ukraine in der Vergangenheit nicht für wichtig. Marco Rubio soll Außenminister werden, er gilt als Verfechter einer Verhandlungslösung, ebenso wohl der designierte Nationale Sicherheitsberater Mike Waltz. Wofür steht das Kabinett Trump II?
Plokhy: In der ersten Amtszeit setzte Trump zum Teil noch auf Menschen mit mehr Fachwissen. Er verließ sich auf Generäle und pensionierte Generäle, wenn es um Sicherheits- oder Militärpolitik ging. Nun sucht er überwiegend nach Loyalisten und überlegt, für welche Positionen sie sich anbieten könnten. Es wird eine viel trumpianischere und unberechenbarere Regierung sein als die erste. Ex-General Keith Kellogg, der schon Stabschef des Nationalen Sicherheitsrats im Kabinett Trump I. war, scheint da die Ausnahme zu sein. Es ist aber unklar, was all das für die Ukraine bedeutet.
taz: Hängt denn für die Ukraine wirklich alles von den USA ab? Was kann oder muss die EU tun für den Fall, dass die USA der Ukraine die Unterstützung versagen?
Plokhy: Auch wenn ich mich mit dieser Ansicht sicher nicht beliebt mache: Trump hatte recht, als er während seiner ersten Präsidentschaft sagte, dass die Situation in der Ukraine für Europa besorgniserregender sei als für die USA und dass Europa seinem Beitrag zur Nato nicht in vollem Umfang nachkomme. Die großen EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich sollten sich wirklich als potenzielle Vermittler anbieten und nicht nur als Zuschauer mit am Tisch sitzen. Und die EU sollte irgendwann selbst in der Lage sein, sich und die Ukraine zu verteidigen. Die EU sollte nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Militärmacht sein. Aus Eigeninteresse.
taz: Emmanuel Macron hat das schon 2017 gefordert. Hat Deutschland es zu spät begriffen?
Plokhy: Ja. Und ich denke, nach dem Abgang Angela Merkels ist ein Vakuum entstanden. Bundeskanzler Scholz wollte nach Beginn des russischen Angriffskriegs nicht die Position des europäischen Anführers einnehmen. Macron hat diese Position eingenommen, und das ziemlich überzeugend.
taz: Anfang der Woche reiste Scholz überraschend in die Ukraine …
Plokhy: …mit seiner Weigerung, die Ukraine mit Taurus zu beliefern, und der Kritik an seinem ergebnislosen Telefonat mit Putin steht Scholz unter Druck. Er muss zeigen, dass er die Ukraine weiterhin unterstützt. Daher der Besuch, bei dem es mehr um Symbolik als um Substanz ging.
taz: Welche Rolle werden die Wahlen in Deutschland spielen?
Plokhy: Wohin sich Deutschland bewegt, dahin bewegt sich Europa. Es ist extrem wichtig, dass Deutschland auf Kurs bleibt in Sachen Ukraine. Wenn die CDU in Deutschland die Regierung stellen sollte, würde das für die Ukraine sicherlich Stabilität bedeuten. Je stärker die populistischen Parteien werden, desto schlimmer wird es für die Ukraine.
taz: Sie selbst lehren seit vielen Jahren in Harvard. Nun wird mit Linda McMahon eine Frau aus dem Showbusiness Bildungsministerin, und auch wenn Bildung Sache der Bundesstaaten ist, würde ihre Politik die Schulen US-weit betreffen. Machen Sie sich auch um die Universitäten unter Trump II. Sorgen?
Plokhy: Es wird in dieser zweiten Amtszeit für die Universitäten darauf ankommen, ob sie die Autonomie der Wissenschaft und die Wissenschaftsfreiheit verteidigen können. Sobald diese angetastet wird, mache ich mir große Sorgen.
taz: Denken Sie daran, die USA zu verlassen?
Plokhy: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen denken darüber nach. Ich aber halte die US-amerikanische Demokratie für stark genug, um zu bestehen. Eine Demokratie mit so langer Tradition wird sich auch nach einem Wahlsieg Trumps nicht beseitigen lassen. Sie sehen schon: Ich versuche, optimistisch zu bleiben.
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