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„Hartz IV muss ersetzt werden“

Jens Spahns Worte zu Hartz IV seien „überheblich und sachlich falsch“, sagt der Grüne Sven Lehmann. Er wirbtfür eine sanktionsfreie und ermutigende Grundsicherung. „Die Leute stellen sich nicht aus Spaß an den Tafeln an“

Arme Menschen auf dem Weg in die Essener Tafel Foto: Roland Weihrauch/dpa

Interview Ulrich Schulte

taz: Herr Lehmann, Jens Spahn sagt, mit Hartz IV habe „jeder das, was er zum Leben braucht“. Warum ist das falsch?

Sven Lehmann: Jens Spahns Sätze sind überheblich und sachlich falsch. Allein 2,5 Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Dahinter stehen Eltern, die arm sind. Die Leute stellen sich nicht aus Spaß bei Minusgraden an den Tafeln an. Das Problem ist sogar noch größer, weil viel mehr Menschen arm sind als die, die tatsächlich Hartz IV beziehen. Viele Bedürftige melden sich gar nicht bei den Behörden, weil sie sich schämen oder nicht Bittsteller sein wollen.

Warum reicht die Grundsicherung nicht? Sie soll offiziell alle Bedürfnisse wie Essen, Kleidung und Wohnen abdecken.

Die Bundesregierung rechnet die Regelsätze künstlich klein. Als Maßstab gilt das, was Niedrigverdiener ausgeben, um über die Runden zu kommen. Diese Vergleichsgruppe wurde verkleinert, um bessere Einkommen auszuschließen. Die Liste der Dinge, die Hartz-IV-Empfängern nicht zugestanden wird, ist lang. Dazu gehören beispielsweise Zimmerpflanzen, Haustiere, Weihnachtsbäume oder Malstifte für Kinder in der Freizeit. Wohlfahrtsverbände wie die Caritas gehen davon aus, dass der Regelsatz von derzeit 416 Euro für einen Erwachsenen mindestens 60 Euro höher liegen müsste.

Warum hört man von den Grünen so wenig fundierte Kritik an Hartz IV? Ihre Partei setzt lieber auf Themen für die ökoaffine Mittelschicht.

Jens Spahn und die Hartz-IV-Debatte

Der Aufreger

Der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat am Wochenende mit Äuße­rungen zu Hartz IV für Empörung gesorgt.Spahn hatte in der Diskussion über den vor­_über­gehenden Aufnahmestopp für Ausländerbei der Essener Tafel gesagt, die Tafeln „helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe“. Deutschland habe „eines der besten Sozialsysteme derWelt“.

Die ReaktionenKritik kam nicht nur aus der Opposition, sondern selbst aus der CDU. Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer sagte: „Wer in Größenordnungen verdient wie wir, sollte sehr vorsichtig umgehen, wenn er über anderer Leute Armut spricht.“

Der Rückzieher

Am Dienstag zeigte Spahn dann Verständnis für die Betroffenen. „Natürlich ist es schwierig, mit so einem kleinen Einkommen umgehen zu müssen“, sagte er auf n-tv.

Diese Kritik höre ich manchmal. Aber die Grünen waren die erste Partei, die deutliche Korrekturen an den Hartz-Gesetzen angemahnt hat. Schon vor zehn Jahren haben wir gesagt, dass der Regelsatz zu niedrig sei und die harten Sanktionen überwunden werden müssten. Auch bei vielen anderen Gerechtigkeitsfragen – etwa der Pflege oder der Gesundheit – sind die Grünen gut aufgestellt.

Die Grünen haben 2016 auf einem Parteitag beschlossen, dass die Hartz-IV-Sanktionen wegmüssen. Davon hat man im Bundestagswahlkampf kein Wort gehört.

Stimmt. In einem Wahlkampf muss man sich ja immer für Schwerpunkte entscheiden. Der Pflegenotstand und die Kinderarmut hatten im Wahlkampf einen hohen Stellenwert. Jetzt geht es aber grundsätzlich um die soziale Sicherung der Zukunft. Und da brauchen wir Veränderung. Hartz IV muss überwunden und durch eine neue soziale Sicherung ersetzt werden.

Wie wollen Sie das erreichen?

Foto: Henning Kaiser/dpa

Sven Lehmann

38, sitzt seit 2017 im Bundestag, ist Teil des linken Parteiflügels und war bis vor Kurzem Vorsitzender der Grünen in Nordrhein-Westfalen.

Das erarbeiten wir im Rahmen unseres neuen Grundsatzprogramms. Wir werden aber noch in diesem Jahr einen Antrag in den Bundestag einbringen, der eine neue Berechnungsgrundlage für die Regelsätze fordert. Die Vergleichsgruppe muss breiter und die verdeckte Armut berücksichtigt werden. Und die alltäglichen Bedarfe müssen lebensnah definiert werden.

Damit wäre Hartz IV nicht überwunden – sondern nur auf eine neue Basis gestellt.

Deswegen braucht es auch einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel. Die Grundsicherung muss von der Würde und den sozialen Rechten des Menschen ausgehen. Nicht davon, ob er auf dem ersten Arbeitsmarkt leistungsfähig ist. Das ist der Webfehler bei Hartz IV. Außerdem sind viele Menschen arm, obwohl sie arbeiten – Deutschland ist eines der Länder in Europa mit dem größten Niedriglohnsektor. Eine Grundsicherung muss sanktionsfrei und ermutigend sein. Ich stelle mir Garantiesysteme vor, die Menschen in allen Lebenslagen soziale Teilhabe ermöglichen und vor Armut schützen.

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