Hartz-IV-Sanktionen in Berlin: Kein Grund zum Feiern
Berlins Landespolitiker reagieren verhalten auf das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Die Regelungen gehen ihnen nicht weit genug.
Die Gefahr der vollständigen Leistungskürzung, wenn etwa eine als zumutbar eingestufte Arbeit oder Maßnahme wiederholt abgelehnt wird, hat das Gericht als verfassungswidrig beurteilt. Der Regelsatz von 424 Euro monatlich, zu dem die Kosten für die Unterkunft hinzukommen, darf fortan nur noch um maximal 30 Prozent gekürzt werden, wenn sich die Betroffenen nicht so fordern lassen, wie es sich der Gesetzgeber vorstellt. Zudem sollen Einzelfälle genauer geprüft und Härtefälle nicht mehr sanktioniert werden.
Seit Einführung des Hartz-IV-Systems vor bald 15 Jahren unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung wurde Millionen Arbeitslosen Geld vorbehalten, das eigentlich als Mindesthöhe definiert ist, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Trotz zuletzt rückläufiger Zahlen betraf dies in Berlin allein im Juni mehr als 17.600 Menschen, wie die Bundesagentur für Arbeit Berlin/Brandenburg der taz auf Anfrage mitteilte. Durchschnittlich seien ihnen 17 Prozent der Gelder für Lebensunterhalt und Unterkunft vorenthalten worden, das entspricht einer monatlichen Kürzung um 106 Euro – jeweils für mindestens drei Monate.
Bislang wurden für versäumte Termine zehn Prozent der Leistungen gekürzt, für die Ablehnung einer Arbeit zunächst 30 Prozent, im Wiederholungsfall 60 Prozent, bei jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres der volle Satz. Bundesweit werden etwa vier Fünftel der Sanktionen aufgrund von Terminversäumnissen verhängt. Wie viele Kürzungen in Berlin über 30 Prozent ausgesprochen wurden, schlüsselt die Arbeitsagentur nicht auf.
Sozialsenatorin unzufrieden
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) bedauerte im Gespräch mit der taz, „dass nicht alle Sanktionen einkassiert worden sind“. Sie sagt: „Die Richtwerte der Hartz-Gesetze bilden das Existenzminimum ab. Ich hätte mir gewünscht, dass das anerkannt wird und man da nicht herankann. Darüber bin ich sehr enttäuscht.“ Andererseits sei das Urteil sehr wohl eine „Verbesserung“ im Vergleich zur bisherigen Praxis.
Sie betonte, dass das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen habe, dass es keine Untersuchungen über die Wirksamkeit von Sanktionen gebe. Für sie steht fest: „Ich denke, dass die Sanktionen nicht dazu geführt haben, dass auch nur ein Mensch in Arbeit gekommen ist.“ Breitenbach fordert insbesondere ein Ende der Sanktionen für Familien mit Kindern, da Letztere unter Leistungskürzungen „am meisten zu leiden“ hätten.
Während die Linke Hartz IV und dessen Sanktionsmechanismen seit jeher ablehnt, gehören auch die Landesverbände von SPD und Grünen nicht zu den Verteidigern des schikanösen Systems. Die Sprecherin für Soziales der SPD-Fraktion, Ülker Radziwill, sagte auf taz-Anfrage, dass es zu begrüßen sei, dass durch das Urteil in Bezug auf das Sanktionssystem „die Würde des Menschen zu 70 Prozent wieder unantastbar ist“. Es sei Aufgabe der SPD, politisch die Unantastbarkeit wieder auf 100 Prozent zu steigern.
Dies sei nur möglich, wenn sich die Partei für das Duo Norbert Walter-Brojans und Saskia Esken für den Parteivorsitz entscheide. Radziwill forderte mit Verweis auf Fachkräftemangel und unbesetzte Azubiplätze, sich „grundsätzlich vom Prinzip des Forderns und Förderns zu verabschieden“.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Silke Gebel sprach von einem „guten Tag für die soziale Gerechtigkeit“, dennoch sei noch viel zu tun. Sie kritisierte besonders die harten Sanktionsmöglichkeiten gegen Menschen unter 25 Jahren, zu denen sich das Gericht nicht geäußert hat.
Bundesratsinitiative geplant
Bereits im Frühjahr hatte die Koalition eine Bundesratsinitiative beschlossen, in der die Streichung der Sanktionen für unter 25-Jährige und für Bedarfsgemeinschaften mit Kindern sowie das Verbot der Kürzung der Kosten für die Unterkunft gefordert wird. Ein Antrag im Bundesrat wird für März erwartet. In Charlottenburg-Wilmersdorf will die rot-rot-grüne Zählgemeinschaft für ein Pilotprojekt eintreten, das Sanktionen gegenüber ALG II-BezieherInnen für zwei Jahre aussetzt. Das Bezirksamt soll sich beim Senat und der beim Bundesministerium für Arbeit einsetzen.
Die Geschäftsführerin des Paritätischen Berlin, Gabriele Schlimper, kündigte an, dass ihr Verband im Beirat der Jobcenter darauf achten werde, dass bis Inkrafttreten der vom Gericht geforderten gesetzlichen Neuregelung „die hohen Sanktionen sofort ausgesetzt werden“. Das Urteil solle ein „Startsignal“ sein, „um das gesamte Zweite Sozialgesetzbuch in die Hand zu nehmen und zu schauen, ob das noch ins Jahr 2020 passt“. Änderungen wünscht sie sich vor allem in der Frage, „wie man künftig vernünftige Unterstützung anbietet, damit sich die Situation für die Menschen tatsächlich verbessert“.
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