Hartz-IV-Bezieher:innen berichten: „14 Euro mehr sind ein Witz“
Die Bundesregierung will die Hartz-IV-Sätze um ein paar Euro erhöhen. Betroffene berichten der taz, warum das Geld weiterhin nicht ausreicht.
„Von der Gesellschaft total ausgeschlossen“
„Ich kommuniziere offen, dass ich Hartz IV beziehe. Aber es geht mir dabei richtig schlecht. Als ich gemerkt habe, dass ich jetzt mit dem Hartz-IV-Satz berechtigt bin, zur Tafel zu gehen, habe ich einen Tiefpunkt erreicht. Ich fühle mich hilflos. Wenn es nur eine Übergangszeit wäre, wäre das nicht so schlimm. Aber perspektivisch weiß ich gar nichts. Ich stehe immer unter extremem Druck, irgendwas machen zu müssen.
Im Sommer 2020 habe ich meine Ausbildung abgeschlossen. Schon da musste ich in Kurzarbeit gehen – wegen Corona. Während meiner Ausbildung habe ich aufgestockt, weil meine Ausbildungsvergütung nicht so hoch war, dass ich davon leben konnte. Nach der Ausbildung habe ich Arbeitslosengeld I bekommen, musste aber wegen der geringen Vergütung zusätzlich Hartz IV beantragen. Außerdem hatte ich keine Ahnung, auf welche bürokratischen Hürden ich treffe. Ich wusste etwa nicht, dass Jobcenter und Arbeitsagentur komplett verschiedene Behörden sind. Das war für mich oft relativ schwer, ich wusste nicht: Wem schicke ich gerade welche Information?
Durch Corona ist meine berufliche Unsicherheit sehr groß. Wann wieder Veranstaltungen stattfinden, ist unklar. Alles ist in der Schwebe. Ich will nur wieder arbeiten, aber wenn sich das nicht in den nächsten Jahren bessert, muss ich umsatteln. Sonst krieg ich das psychisch nicht mehr hin. Seit März hab ich nichts mehr zu tun, ein weiteres Jahr halte ich das nicht aus. Wenn du nicht arbeitest, bist du von der Gesellschaft total ausgeschlossen. In vielen Branchen können die Leute einfach arbeiten und kriegen nicht mit, dass es Leute gibt, bei denen das gerade nicht geht. Die stressen rum, weil sie nicht mehr in den Urlaub fahren können. Wenn das das größte Problem ist, dann haben wir wirklich kein Gesprächsthema mehr.
14 Euro mehr Hartz IV bringen nicht viel. Mir wäre es wesentlich lieber, wenn es stattdessen eine bessere Kommunikation mit den Ämtern gäbe und mehr Informationen, wie was funktioniert.“
Lara Tieme (Name geändert), 30, aus Leipzig beendete 2020 ihre Ausbildung als Veranstaltungstechnikerin
„Als würde ich mich vor dem Amt ausziehen“
„Bis März waren wir fast für das ganze Jahr ausgebucht, doch mit Corona kam der Einbruch: Meine Frau und ich können unseren Beruf als freischaffende Fotograf:innen nicht mehr ausüben. Alle Messen und Events wurden abgesagt, wir hatten keine Einnahmequellen mehr. Wir haben sofort Hartz IV beantragt, weil wir keine Rücklagen hatten. Damit können wir Zahlungen wie die Krankenversicherung sicherstellen.
Es ist komisch, vor den Ämtern so viele Informationen über sich preiszugeben – es fühlt sich an, als würde ich mich ausziehen. Wir bekommen Kindergeld und den niedrigsten Hartz-IV-Satz. Damit müssen wir klarkommen. Aber ich bin trotzdem froh, eine Absicherung zu haben.
Unser Kaufverhalten mussten wir gehörig einschränken. Es war ein Umlernen, nicht mehr die teure Milch aus dem Bioladen oder das teure Brot vom Biobäcker zu kaufen – kurz: sich auf Hartz IV einzustellen. Erst in den letzten drei Monaten haben wir angefangen, mit unseren Freund:innen über unsere Situation zu reden. Das macht verwundbar, es ist erst mal ein sozialer Abstieg. Mit den Kindern gehen wir so offen wie möglich um. Ich will ihnen nichts verheimlichen. Du kannst deinen Kindern nicht sagen: ‚Wir gehen jetzt essen, wir gehen schwimmen, wir machen einen Ausflug oder eine Reise.‘ Das fällt flach.
Die Kund:innen melden sich einfach gar nicht mehr. Und du denkst dann: ‚Haben die mich vergessen?‘ Das kratzt an der Seele.
Die Ungewissheit wächst mit jedem Tag, ich plane gar nichts mehr. Dass es weiter so bleibt und wir vielleicht irgendwann nicht mehr in diesem Haus wohnen können oder unser soziales Umfeld wegbricht. Ein stabiler familiärer Background hilft, das auszuhalten. Wenn der Hartz-IV-Satz um 14 Euro erhöht wird, ist das nicht wesentlich. Wenn wir über 50 Euro sprechen, ist das ein Einkaufskorb die Woche mehr. Aber da drunter, das ist zu wenig. Das ist eher ein falsches Signal.“
Max Senneburg (Name geändert), 47, ist Fotograf und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin
„Die Armen müssen um jeden Cent betteln“
„Zwei meiner Kinder leben bei mir, eines bei der Mutter. Die Kinder kennen mich als zwei verschiedene Papas. Wenn ich arbeitslos zu Hause bin und wenn ich arbeite. Deshalb wissen sie, dass es einfacher ist, mit Geld auszukommen, wenn man Arbeit hat. Ich glaube, dass Bildung wichtig ist, um einen guten Beruf und ein auskömmliches Einkommen zu haben. Deshalb ermutige ich die drei immer, in der Schule fleißig zu sein.
Bis Dezember 2019 habe ich bei einem Bürger:innenverein in Leipzig gearbeitet. Dort habe ich Menschen darüber beraten, welche Leistungen sie beim Jobcenter in Anspruch nehmen können. Ich bin auch schon lange bei der Erwerbsloseninitiative Leipzig aktiv. Wir betreuen und beraten Leute etwa bei der Antragstellung beim Amt. Deshalb war es für mich leichter, die Prozesse zu verstehen, als ich selbst arbeitslos geworden bin. Man weiß, wie man mit den Behörden umzugehen hat. Für Menschen, die zum ersten Mal in so einer Situation sind und noch nie zuvor damit zu tun hatten, ist das viel schwieriger.
Wenn man Hartz IV bezieht, sollte man sich grundsätzlich nicht schämen. Ich ermutige alle Menschen, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen. Es gibt beispielsweise viele Alleinerziehende, die nicht den Mut haben, Wohngeld zu beantragen. Ich finde, die Unterstützung, die es gibt, sollte man für sich und die Kinder nutzen.
Während der Coronapandemie fällt einmal mehr auf, wie die Gelder verteilt sind: Die großen Firmen und Erwerbstätigen bekommen staatliche Förderungen. Die Armen – also diejenigen, die sowieso schon wenig haben – müssen im Prinzip um jeden Cent betteln. Deshalb lässt sich die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes sehr kurz zusammenfassen: Es ist ein Witz. Es ist lächerlich.
Alles wird teurer: Fahrkarten, Kleidung, Telefonrechnungen. Was bringen da 14 Euro? Die Politik muss ein deutlicheres Signal senden, dass sie arme Menschen unterstützen will.“
Perry Feth, 55, ist Vater von drei Kindern und arbeitete in einem Leipziger Bürgerverein
Die Details des Gesetzentwurfs:
Der Gesetzentwurf von Bundessozialminister Hubertus Heil sieht vor: Allein lebende Personen sollen ab nächstem Jahr 446 Euro im Monat bekommen – das sind 14 Euro mehr als bisher. Das muss reichen für Lebensmittel, Strom, neue Winterschuhe oder auch mal einen Kinobesuch – auch wenn kulturelle Teilhabe in der Coronazeit weit entfernt erscheint.
Am stärksten steigt der Satz für Teenager zwischen 14 und 17 Jahren: Sie sollen künftig 373 Euro pro Monat, das sind 45 Euro mehr, bekommen. Der Satz für Kinder bis zu 5 Jahren steigt um 33 Euro auf 283 Euro, 6- bis 13-Jährige profitieren hingegen kaum: Sie sollen 309 Euro bekommen – genau 1 Euro mehr als jetzt. Das Bundessozialministerium erklärte, dass diese Altersgruppe bei der letzten Neuberechnung für das Jahr 2017 „weit überproportional profitiert“ habe. Dennoch: Die Logik der Zahlen ist trotz klarer Berechnungsmethoden nicht zwingend nachvollziehbar.
Die Regelsätze werden einerseits jährlich an die Entwicklung der Nettolöhne und an die Preisentwicklung „regelbedarfsrelevanter“ Güter angepasst. Zudem ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, die Regelsätze alle fünf Jahre neu zu ermitteln, wenn das Statistische Bundesamt die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe durchgeführt hat. Es ist eine Befragung über Einnahmen und Ausgaben aller Einkommensgruppen.
Das Bundessozialministerium orientiert sich dann zur Ermittlung der Hartz-IV-Sätze nur an den durchschnittlichen Ausgaben der Einkommensschwächsten, der ärmsten 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft. Aus deren Ausgaben werden zudem Posten herausgerechnet, die als nicht „bedarfsrelevant“ gelten. Dazu zählen zum Beispiel: Ausgaben für alkoholische Getränke, Zigaretten, Futter für Haustiere, Flüge, Unterhaltskosten für ein Auto oder die Kosten für Zimmerpflanzen. Die Summe wird also konsequent kleingerechnet.
Das sagen Sozialverbände und Opposition:
Verbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler:innen kritisieren schon seit Jahren diese Berechnungsmethode der Bundesregierung. Denn statistische Berechnungen müssen sich nicht mit der Lebensrealität der Menschen decken. Die sieht oftmals so aus: Hartz-IV-Empfänger:innen greifen auf das Angebot der Tafeln zurück, um überhaupt über die Runden zu kommen.
Anja Piel vom Deutschen Gewerkschaftsbund hält es für „unredlich und zynisch“, die Neuberechnungen den Ärmsten als „Erhöhung zu verkaufen“. Auch mit dem neuen Regelsatz liege das Hartz-IV-Leistungsniveau „unterhalb der offiziellen Armutsgrenze“.
Der Paritätische Gesamtverband bezeichnet die geplanten Sätze als „realitätsfern, nicht bedarfsgerecht und viel zu niedrig“ und wirft der Bundesregierung „statistische Trickserei und unverschämtes Kleinrechnen“ vor. Nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müsste ein armutsfester Regelsatz für einen allein lebenden Erwachsenen 644 Euro betragen. Knapp 200 Euro mehr pro Monat als jetzt geplant.
Die Opposition ist sich überwiegend einig, dass die von der Bundesregierung errechneten Sätze nicht zum Leben reichen. Durch ein künstliches Kleinrechnen des Bedarfs würden die Betroffenen zu einem Leben in Armut verdonnert, kritisierte Linken-Vorsitzende Katja Kipping bei der ersten Lesung im Bundestag.
Der Grünen-Sozialpolitiker Sven Lehmann erklärte: „Eine Anhebung des Regelsatzes um 14 Euro für Erwachsene gleicht im Wesentlichen die gestiegenen Preise aus und verpufft damit.“ Beide Parteien haben deshalb noch mal neu berechnet: Die Linke möchte, dass der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen auf 657,55 Euro erhöht wird. Die Grünen fordern 603 Euro pro Monat.
Der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, will hingegen eine grundlegende Hartz-IV-Reform. „Euroweise Erhöhungen führen letztlich nicht weiter“, findet er. Die FDP fordert höhere Zuverdienstgrenzen, damit die Betroffenen mehr von ihrem selbst verdienten Geld behalten dürfen.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lebten in diesem Oktober 5,6 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften. Durch die Coronapandemie ist mit einer deutlichen Zunahme von Armut und Erwerbslosigkeit zu rechnen. Dies wird sich bald auch in Zahlen niederschlagen – und hinter diesen stehen Menschen, die rechnen müssen, ob sie ihre Stromrechnung oder neue Atemschutzmasken bezahlen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken