Hamas-Anschläge auf Israel: Die Welt wird neu gemischt
Zum ersten Mal seit Februar 2022 ist die Ukraine nicht mehr das zentrale internationale Thema. Russland und die USA müssen sich nun neu positionieren.
Dieses Risiko ist dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski bewusst und er hält dagegen, indem er sich positioniert. Als einer der ersten Staatsmänner veröffentlichte er zu Beginn des Hamas-Angriffs am Samstag eine klare Solidaritätserklärung für Israel, nannte den Terror ein „Verbrechen gegen die Welt“ und Israels Selbstverteidigungsrecht „unstrittig“.
Am Mittwoch hat Selenski erstmals ein Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe im sogenannten Ramstein-Format, das westliche Militärhilfe für die Ukraine koordiniert, persönlich besucht. Vor der Presse in Brüssel mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg an seiner Seite rief er „die Führer der Welt“ dazu auf, nach Israel zu reisen, und erinnerte an seine eigenen Erlebnisse nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022: „Es war sehr wichtig, nicht allein zu sein“, resümierte er. Anders als manche ukrainischen Kommentatoren behaupten, gibt es keinen Beleg für die These, Russland stecke hinter dem Hamas-Angriff auf Israel. Aber Russland kann davon profitieren, auf mehreren Ebenen.
Es ist kein Geheimnis, dass Iran die Hamas militärisch unterstützt, nach Darstellung Israels sogar anleitet. Iran und Russland kooperieren militärisch seit Jahren in Syrien, wo sie beide das Assad-Regime mit Truppen unterstützen, und Iran unterstützt Russland gegen die Ukraine vor allem mit Drohnen. Hinter der aktuellen Schlagkraft der Hamas könne nur eine auswärtige Macht stecken, mutmaßen Beobachter. Nach Recherchen des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) baut Iran seit 2014 in Gaza die lokale Rüstungsproduktion mit auf, und auch der erfolgreiche Einsatz von Drohnen durch die Hamas beruhe auf iranischer Expertise. Die Hamas „nutzt russische Taktiken aus dem Ukrainekrieg“, schreibt die israelische Zeitung Ha’aretz.
Noch schlagkräftiger als die Hamas ist nach allgemeiner Einschätzung Libanons Hisbollah-Miliz. Die Hisbollah war gemeinsam mit Irans Revolutionsgarden und Russlands Luftwaffe entscheidend für den Sieg des syrischen Assad-Regimes gegen die aus Syriens Demokratiebewegung hervorgegangenen Rebellen. Die Achse Moskau–Teheran hat aber Lücken. Regelmäßig bombardiert Israel in Syrien iranische Militäreinrichtungen – mit Duldung Russlands, das an der syrischen Küste seine wichtigsten ausländischen Militärbasen unterhält. Die informelle Stillhaltevereinbarung zwischen Israel und Russland zulasten Irans ist der Hauptgrund dafür, dass Israel sich aus dem Ukraine-Krieg weitgehend herausgehalten und umfangreiche Militärhilfe für Kyjiw abgewiesen hat.
Dieses Kalkül könnte sich ändern, sollte die Hisbollah eine zweite Front gegen Israel eröffnen – also von Norden aus einen Großangriff starten, während Israels Militär im Gazastreifen im maximalen Einsatz ist. Berichten zufolge hat Israel die Hisbollah gewarnt, in diesem Fall werde man Syrien direkt angreifen. Dann würde aus dem Gazakrieg ein großer Nahostkrieg – und Putin müsste sich zwischen Teheran und Jerusalem entscheiden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Verlegung des größten US-Flugzeugträgers, der „USS Ford“, von Italien nach Israel an der Spitze einer Kriegsflotte besondere Brisanz. Die Kriegsschiffe seien am Dienstag eingetroffen, gab das US-Regionalkommando Centcom bekannt. Ein zweiter Flugzeugträger, „USS Eisenhower“, ist unterwegs und soll ab Monatsende den USA „die Flexibilität bieten, auf andere Eventualitäten in Europa zu reagieren“, schrieb in der Nacht zu Mittwoch der Fachbrief Maritime Executive.
Anders als bei der Ukraine besteht bei Israel kein Zweifel an der Fortdauer der Unterstützung aus den USA, trotz der aktuellen Selbstblockade der US-Institutionen in Washington. Der US-Kongress strich am 30. September auf Druck des rechten Flügels der US-Republikaner alle von US-Präsident Joe Biden beantragten neuen Finanzhilfen für die Ukraine aus dem Nothaushalt, der für 45 Tage das Weiterlaufen der Regierungsgeschäfte gewährleistet. Drei Tage später stürzten sie auch den Sprecher des US-Repräsentantenhauses. Damit hat die extreme Rechte der USA, die Russlands Putin-Regime nahesteht, bis auf Weiteres die Militärhilfe für die Ukraine in der Hand. Dass die Hamas nur wenige Tage später Israel überfiel, mag Zufall gewesen sein, aber es verschärft die Krise weiter, denn nun spielt die US-Rechte auch noch Israel und die Ukraine gegeneinander aus.
Russland als Vermittler
„Alle Gelder für die Ukraine sollten an Israel umgeleitet werden“, schrieb der republikanische US-Senator Josh Hawley am Montag auf X, ehemals Twitter, ein Trump-Fan, der 2020 den Versuch angeführt hatte, die Zertifizierung von Joe Bidens Wahlsieg durch den US-Senat zu stoppen. In diesem politischen Lager geistert auch die Behauptung umher, US-Waffen seien aus der Ukraine an die Hamas geschmuggelt worden – eine von russischen Kreisen verbreitete Falschnachricht. Der Militärgeheimdienst der Ukraine sagt im Gegenzug, Russland rüste die Hamas mit in der Ukraine erbeutetem Gerät aus.
Offiziell bringt sich Russland derweil als Nahostvermittler ins Spiel. „Russland kann und wird eine Rolle bei der Regulierung spielen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch und betonte, es sei wichtig, einen „ausgewogenen Ansatz“ zu verfolgen und zu beiden Konfliktparteien Kontakt zu halten. Für Israel-Verbündete ist es hingegen inakzeptabel, die Hamas als Konfliktpartei auf eine Stufe mit Israel zu stellen, statt als Terrororganisation zu ächten.
Diese Unterschiedlichkeit belastet auch die bereits durch den Ukraine-Krieg angespannten Beziehungen zwischen dem Westen und dem Globalen Süden. Die meisten Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika stehen im Nahostkonflikt politisch auf der Seite Palästinas gegen Israel, ihre Gesellschaften noch mehr als ihre Regierungen. Das heißt nicht, dass sie den Hamas-Terror gutheißen. Aber sollten in den nächsten Tagen grauenhafte Bilder aus Gaza die grauenhaften Bilder aus Israel verdrängen, steht eine erneute globale Nord-Süd-Entfremdung an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Krieg in Gaza
Kein einziger Tropfen sauberes Wasser
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus