Halloween: Das tollste Fest von allen
Halloween hat nichts mit Religionen zu tun, es gibt keinen Braten und die Familie muss man auch nicht sehen. Wird es Weihnachten in Zukunft ablösen?
K opfschüttelnd lief ich an all den Häusern vorbei, die mit künstlichen Spinnennetzen, Skeletten, Grabsteinen und abgeschnittenen Gliedmaßen aus Gummi dekoriert waren. „Wie kann man bei den ganzen aktuellen Katastrophen noch Lust auf Halloween haben?“, fragte ich laut. Ich war mit meinem Freund Felix unterwegs, der aus dem Jahr 2123 stammt und mich ab und zu in der Gegenwart besuchen kommt.
Während ich verständnislos schaute, war Felix geradezu entzückt. Er zeigte auf geschnitzte Kürbisse und drückte voller Begeisterung auf die Knöpfe einer Zombiepuppe, die daraufhin schauderhaft stöhnte und versprach, bei der nächsten Gelegenheit sein Gehirn zu verspeisen.
„Einfach großartig!“, rief er.
„Gibt es in hundert Jahren kein Halloween mehr?“, fragte ich.
„Oh doch, natürlich. Halloween ist das wichtigste Fest von allen.“
„Wie konnte das denn passieren?“, fragte ich entgeistert.
„Halloween ist das perfekte Fest für eine individualisierte Single-Gesellschaft mit Hang zum Dramatischen. Die Religionen streiten ab, damit etwas zu tun zu haben, was es zum idealen Fest für alle macht! Niemand muss beschenkt werden, es gibt keine verpflichtenden Familienbesuche, Partys sind möglich, aber nicht zwingend erforderlich; keiner muss gut gelaunt sein, Hässlichkeit, Ekel und Horror werden gefeiert.
Endlich kann man all seine Online-Fehlkäufe auf einmal anziehen und niemand wird einen dafür schief angucken. Noch ein Vorteil: Halloween findet bei Einbruch der Dunkelheit statt, das heißt, Kinder können schon am Nachmittag loslegen. Und statt endlose Gelage abzuhalten, für die massenweise Tiere geschlachtet werden, stopfen sich die Menschen mit Süßigkeiten voll. Ach ja, und die Nachbarn lernt man auch endlich kennen.“
„Hmmm“, murmelte ich, während ich vorsichtig die spitzen Zähne einer Vampirpuppe befühlte. „Ich fand es bisher befremdlich, dass Menschen Spaß an Horror haben … wenn ich schlimme Sachen sehen will, guck ich die Tagesschau.“
„Aber das ist doch der springende Punkt: Die Angst, die wir vor den wirklich großen Katastrophen haben, findet in unserer Gesellschaft kaum ein Ventil. Wir können die globalen Probleme nicht selber lösen; verdrängen ist aber auch fatal – wie man an eurer Zeit gerade sehen kann. Aber an Halloween können wir all das, wovor wir verlernt haben uns zu fürchten, wieder aus dem Keller holen und es eine Nacht lang feiern.“
„Weil wir wissen, dass wir es überleben werden“, sagte ich.
„Genau. Angst gehört wie Wut und Trauer zu den Emotionen, die lange Zeit aus seriösen Diskussionen ausgeschlossen wurden, weil sie vermeintlich irrational sind. So wurde den Frauen, die wütend gegen die Verletzung ihrer Rechte protestierten, lange Zeit die Vernunft abgesprochen. Politiker*innen, die Angst vor Krieg hatten, oder Wissenschaftler*innen, die um den Verlust intakter Natur trauerten, wurden nicht ernst genommen. Aber Angst, Wut und Trauer sind starke, berechtigte Antriebe für unser Handeln.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Deshalb also der Ausdruck Geisteswissenschaften“, sagte ich.
„Das Wortspiel ist furchtbar!“, sagte er kopfschüttelnd.
„Ach Felix, an Halloween musst du solche Schrecken aushalten können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär