Halle-Attentäter erneut vor Gericht: Geständnis und Fragen
Der Täter von Halle steht vor Gericht – trotz rechtsgültiger Höchststrafe. Dieses Mal geht es um einen versuchten Gefängnisausbruch mit Geiselnahme 2022.
Gut drei Jahre nachdem die Höchststrafe verhängt wurde, steht er diesen Mittwoch wieder vor Gericht, wieder im Saal C24 des Landgerichts Magdeburg, dort, wo bereits der Prozess zum Attentat stattfand.
Und wieder geht es um eine selbstgebaute Waffe. Der Angeklagte soll sie genutzt haben, um aus dem Hochsicherheitstrakt der JVA Burg zu entkommen. Die Anklage lautet: Geiselnahme und Verstoß gegen das Waffengesetz. Bei Verurteilung bedeutet dies eine Freiheitsstrafe von 5 bis 15 Jahren.
Eingangs wird der Tathergang geschildert: Am Montag, den 12. Dezember 2022, um 21 Uhr, zur Nachtschließzeit, habe der Angeklagte hinter seiner Zellentür einem Beamten aufgelauert, ihn mit einer selbstgebastelten Waffe zur Geisel genommen und mit ihm den Weg aus der Anstalt angetreten. Er scheiterte an der Hauptschleuse der JVA, feuerte einen Warnschuss ab. Die umstehenden Beamten nutzten den Moment und beendeten den versuchten Ausbruch nach 34 Minuten.
Bezug auf andere Rechtsextreme?
Als die Vorsitzende Richterin Simone Henze-von Staden den Angeklagten fragt, ob er etwas zu sagen habe, gesteht dieser die Tat umgehend. Er spricht sogar von der „Geisel“ und behauptet, die Waffe sei „tödlich“ gewesen. Zusätzlich gibt es zahlreiche Zeugen, und das Vorgehen ist auf so vielen Videokameras festgehalten, dass das Abspielen bereits ausgewählter Aufzeichnungen mehr als zwei Stunden dieses Prozesstags einnimmt. Auf den ersten Blick scheint alles klar zu sein. Worum geht es hier also?
Bereits am ersten Prozesstag zeichnet sich ab, dass das Motiv nicht ausreichend geklärt ist. Aus dem Gefängnis fliehen – aber was danach? Auf die Frage weicht der Angeklagte aus. Im Prozess zum Attentat war er durch sein gefestigtes rechtsextremes Weltbild und der vollen Überzeugung von seinen Taten aufgefallen. Ein Schriftstück bewies, dass er sich am Attentat von Christchurch orientiert habe.
Der Angeklagte gibt an, er habe den Plan etwa eine Woche vor der Tat gefasst. Anlass sei gewesen, dass er aus der Zeitung von der bundesweiten Razzia und Festnahmen von Reichsbürgern um Prinz Reuß erfahren habe. Über das folgende Wochenende habe er die Tatwaffe gebaut.
Es scheint sich auf ein Neues zu bewahrheiten, wovor Beobachter*innen der rechtsextremen Szene seit Jahren warnen: (Mutmaßliche) rechtsextreme Attentäter sehen einander, sie beziehen sich in ihren Taten aufeinander, ihre Taten haben immer auch das Motiv, weitere Taten auszulösen. Die Frage ist, welche Rolle dieser Fakt im Prozessverlauf spielen wird.
Weiter Fluchtgefahr möglich
Eine zweite Frage ist, ob der Angeklagte einen weiteren Ausbruchsversuch in Erwägung zieht. Der verhandelte Ausbruchsversuch war schließlich nicht sein erster. Bereits im Mai 2020 hatte er versucht, aus der JVA Halle zu entkommen, nachdem seine Haftbedingungen gelockert wurden.
Schließlich bleibt bisher offen, wie sehr mögliches Behördenversagen zum Gegenstand dieser Verhandlung werden wird. Denn diese eine Frage hängt über dem Raum: Wie kann es sein, dass ein verurteilter Straftäter diesen Profils auch in der JVA Burg nicht ausreichend gesichert war und offenbar ein Wochenende lang unbeobachtet eine Waffe anfertigen konnte?
Laut einer Pressemitteilung der Soligruppe 9. Oktober und dem Tekiez sagt die Überlebende des Attentats Naomi Henkel-Gümbel in Hinblick auf den Prozess: „Es ist an der Zeit, die tief verwurzelten Kontinuitäten strukturellen Behördenversagens aufzuarbeiten. Nur so können wir eine Gesellschaft schaffen, die wachsam gegenüber menschenfeindlichen Ideologien ist und die Perspektiven der Betroffenen ernst nimmt.“
Und auch der Überlebende İsmet Tekin sagt: „Für mich persönlich ist es wieder eine große Schande und Enttäuschung, ich habe noch mehr Misstrauen in die deutschen Behörden.“
Klar ist: Auch dieser Prozess um den Attentäter von Halle sendet Signale, die Frage ist nur, wie bewusst sich das Gericht dessen ist. Bisher sind sieben weitere Verhandlungstage geplant. In den kommenden Prozesstagen werden Zeugen zu Wort kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind