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Haftstrafen für „bisher Unvorstellbares“

■ Mit dem Urteil über vier AltenpflegerInnen will das Amtsgericht ein Signal geben

Mit zunehmender Zahl der Berufsjahre stelle man fest, sagte gestern Amtsrichter Klaus-Ulrich Tempcke, daß offenbar nichts unmöglich sei. Und man müsse sich fragen, wie das „bisher Unvorstellbare“ dann innerhalb des im Lauf der Jahre entwickelten „Bewertungsrasters“ einzuordnen sei. Die vier Angeklagten, ehemals Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Altenheims in Groß Borstel, hätten massiv die körperliche Unversehrtheit der alten Leute verletzt – und in grober Weise gegen den grundgesetzlichen Schutz der Menschenwürde verstoßen. Das Gericht verhängte Haftstrafen, nur in einem Fall auf Bewährung.

Von Herbst 1994 bis zum Frühjahr 1996 haben eine 24jährige Auszubildende, ihre drei Jahre ältere Anleiterin und zwei 23 und 39 Jahre alte männliche Pfleger Heimbewohner und auch Kollegen mißhandelt und beleidigt. Sie schmierten alten Patientinnen Kot ins Gesicht, zündeten die Schamhaare eines 78jährigen an und malträtierten Mitarbeiter mit Körper und Seele verletzenden „Scherzen“, wie die Angeklagten es nannten. Auch die Verteidiger, so der Richter, hätten einige der Taten als Jugendstreiche bagatellisiert.

Das Ungleichgewicht in der juristischen Bewertung von Eigentums- und Körperverletzungsdelikten sei in der Vergangenheit oft und zu Recht kritisiert worden, sagte Tempcke. Erst vor zwei Monaten hatte ein Kollege im selben Gerichtssaal ein heftig umstrittenes Urteil gefällt: Amtsrichter Ronald Schill verurteilte eine psychisch labile Frau zu zweieinhalb Jahren Haft, weil sie – aus niedrigen Beweggründen, meinte der Richter – in zehn Fällen den Lack von geparkten Autos zerkratzt haben soll (taz berichtete).

Kot zu verschmieren im Gesicht einer pflegebedürftigen alten Frau sei das Erniedrigendste, was man sich vorstellen könne, sagte Tempcke. Und man müsse sich fragen, ob es tatsächlich schlimmer sei, mit einer Gaspistole bewaffnet eine Tankstelle zu überfallen. „Dafür gibt es dann drei Jahre.“ Für die ehemalige Auszubildende – die „treibende Kraft“, so Tempcke – gab es gestern dreieinhalb Jahre Haft und ein fünfjähriges Berufsverbot. Ihre Anleiterin wurde zu zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und darf ihren Beruf für vier Jahre nicht ausüben. Der 39jährige Mitangeklagte erhielt ein Jahr und neun Monate Haftstrafe und eine dreijährige Sperre. Nur der vierte kam mit einer achtmonatigen Bewährungsstrafe davon.

Dies sei der erste bekannt gewordene Fall von schweren Mißhandlungen an behinderten und alten Menschen. Von dem Urteil, so Tempcke, müsse eine Signalwirkung ausgehen. Stefanie Winter

(siehe auch Seite 4)

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