Häusliche Gewalt in Schleswig-Holstein: Gewaltschutz mit Lücken
Bei Verstößen gegen Kontaktverbote müssen Opfer häuslicher Gewalt diese selbst aktiv beim Familiengericht anzeigen. Das scheitert in der Praxis häufig.

Kerstin Hansen von der Koordinierungsstelle der Netzwerke gegen häusliche Gewalt, KIK, beginnt mit den guten Seiten: Seit es Gesetze wie die Wegweisung gibt, müssen die gewalttätigen Personen – meist sind es Männer – das Haus verlassen. Früher blieb den Opfern, meist Frauen und Kinder, nur die Flucht. Auch internationale Abkommen wie die Istanbul-Konvention seien hilfreich, um Gewaltopfer zu schützen.
In Politik und Gesellschaft ist das Thema angekommen. Gerade in Schleswig-Holstein sei vieles vorbildlich, lobt Hansen. So erhalten Frauenhäuser nach einem festen Schlüssel Geld über den kommunalen Finanzausgleich, auch das KIK-Netzwerk sei einzigartig: In regionalen Gruppen kommen Vertreter:innen von Polizei, Justiz und Beratungsstellen zusammen und besprechen Präventionsmaßnahmen.
Bis zu 40 Prozent der Männer übertreten die Anordnungen
Doch es blieben Lücken im Hilfesystem. Eine große klafft bei der Durchsetzung von Kontaktverboten. So im Fall des Mannes aus Norderstedt, der in Kiel vor dem Landgericht steht. Obwohl das Familiengericht angeordnet hatte, dass er sich seiner Ex-Frau und ihren Angehörigen nicht nähert, tat er es immer wieder: Im Juli 2024 bedrohte er sie an ihrem Arbeitsplatz, war mehrfach bei ihrer Wohnung, klingelte und brüllte Drohungen vor den Häusern der Eltern und ihrer Schwester. Im November wartete er wieder bei der Arbeitsstelle der Ex-Frau. Mitte Dezember stand er mehrfach vor ihrer Wohnungstür. Insgesamt 20-mal verstieß er gegen die Auflagen.
Das sei nicht ungewöhnlich, sagt Katharina Wulff, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Frauenberatungsstellen: „Die meisten Männer halten sich an die Anordnung, aber viele eben auch nicht.“ Genaue Zahlen lägen nicht vor, aber nach den Informationen aus den Beratungsstellen würden bis zu 40 Prozent der gerichtlichen Anordnungen mehr oder weniger häufig übertreten. Die betroffenen Frauen wenden sich in der Regel an die Polizei.
„Die kommen eigentlich immer zuverlässig“, sagt Hansen. Für den Moment ist die Bedrohung damit behoben – mehr aber nicht. Denn die Anordnung des Familiengerichts unterliegt dem Zivilrecht. „Damit der Mann sanktioniert wird, mit Ordnungsgeld oder Ordnungshaft, muss die Frau sich an das Familiengericht wenden, das die Anordnung erlassen hat, und zwar in jedem einzelnen Fall wieder“, erklärt die Gewaltschutz-Expertin.
Nach Meldungen passiert oft nichts
Sie sieht diese Regelung als Problem: „Viele Frauen wissen das nicht, sie denken – wie es eigentlich auch der gesunde Menschenverstand nahelegt – es reiche, die Polizei zu rufen.“ Selbst einigen Fachleuten sei das korrekte Verfahren unbekannt. „In den Beratungsstellen sagen wir es den Frauen inzwischen, aber es bleibt kompliziert“, sagt Hansen. Wichtig sei auch, die Fälle zu dokumentieren, etwa per Foto.
Doch selbst wenn Frauen die Verstöße dem Gericht melden, passiert oft lange nichts: „Zwar gilt Eilbedürftigkeit, wenn ein Opfer häuslicher Gewalt zum ersten Mal beantragt, dass sich der Täter nicht nähern darf“, erklärt Katharina Wulff. „Aber wenn Verstöße gemeldet werden, landet das erst mal auf dem großen Stapel.“
Der Prozess gegen den Mann aus Norderstedt hat gerade erst begonnen. Welche Maßnahmen die Frau und ihre Familie gegen den Ex-Partner unternahmen, wird das Verfahren ergeben. Für Wulff und Hansen bleibt es eine ärgerliche Lücke in der Hilfekette gegen Gewalttäter. Die wird bleiben, erklärt Jana Hämmer, Sprecherin des Innenministeriums: „Zivilrechtliche Maßnahmen müssen durch die Betroffenen selbst beantragt werden.“ Hier könne nur eine Änderung auf Bundesebene Abhilfe schaffen.
Fußfesseln sollen helfen
Allerdings hat das Land Schleswig-Holstein in diesem Jahr ein neues Gewaltschutzgesetz erlassen und verwaltungsrechtlich die Möglichkeit geschaffen, dass die Polizei beim Amtsgericht polizeirechtliche Maßnahmen zum Schutz der Opfer erwirken kann. „Damit sollen Schutzlücken in Hochrisikofällen geschlossen werden, in denen die Opfer nicht in der Lage sind, zivilrechtlichen Schutz zu erwirken“, so Hämmer.
Neu ist auch die elektronische „Fußfessel“, die das Parlament in Kiel im März beschlossen hat. „Wir wollen die Opfer häuslicher Gewalt besser als bisher schützen“, verspricht Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack. Doch Anordnungen seien nur dann wirksam, wenn sie effektiv überwacht würden – dazu sei die Fußfessel ein wichtiger Baustein, um bestehende Schutzlücken zu schließen. Doch die allein könne den Schutz der Betroffenen nicht gewährleisten. Daher hat Schleswig-Holstein ein landesweit verbindliches Hochrisikomanagement eingeführt, das den Polizist:innen verbindliche Vorgaben macht, wie sie in Fällen von häuslicher Gewalt vorgehen sollen.
Für Katharina Wulff vom Verband der Frauenberatungsstellen ist ein weiterer Punkt wichtig: Täter erhalten neuerdings Angebote zur Gewaltprävention. „Deutlich besser wäre, wenn sie verpflichtet wären, an so einer Maßnahme teilzunehmen, aber auch so ist es wichtig, dass vom Täter aus gedacht wird“, sagt Wulff. „Nicht die Opfer, sondern Täter und Gesellschaft müssen sich ändern.“
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