Haasenburg-Prozess: Erziehungsarbeit mit Hämatomen
Nach der Schließung der Haasenburg-Heime ist es nun zum Prozess wegen Körperverletzung gekommen. Ein Erzieher wurde freigesprochen.
LÜBBEN taz | Im zweiten Prozess vor dem Amtsgericht Lübben gegen ehemalige Mitarbeiter der Haasenburg GmbH konnte dem Angeklagten Dirk Sch. nicht nachgewiesen werden, den heute 18-jährigen S. bei einer „Anti-Agressionsmaßnahme“ mit dem Ellbogen niedergeschlagen zu haben. Es kam zum Freispruch.
Richter Rainer Röhrig ließ sich nach dem Prozess zu der Bewertung hinreißen, er habe von dem Opfer, dem schüchtern wirkenden S., „keinen einzigen brauchbaren Satz“ gehört, obschon durchaus Interessantes zu vernehmen war. Doch warum kam es dann zu diesem Prozess?
Beobachter stellten vor allem Staatsanwältin Jessica Hansen ein schlechtes Zeugnis aus. Eine Beobachterin sprach von „schlampiger Arbeit“. Hansen war es trotz langen Ermittlungen nicht einmal gelungen, ihren Hauptbelastungszeugen S. dazu zu bringen, dass er seine erste Aussagen von vor einem Jahr erneut im Gericht wiederholt. Offenbar hatte die Ermittlerin mit dem Jungen gar nicht mehr gesprochen. Dieser gab an, von dem Prozess aus der Presse erfahren zu haben.
S. hatte in seiner ersten Vernehmung den Erzieher so schlüssig belastet, dass die Staatsanwältin genügend Anhaltspunkte darin für einen Prozess erkannt hatte. Im Kontrast dazu verstieg sich Richter Röhrig später zu der rhetorischen Frage, ob es sich bei S. überhaupt „um einen Geschädigten“ handeln würde. Dem Angeklagten konnten schließlich keine Schläge mit dem Ellbogen nachgewiesen werden. Zudem wirke der Hauptbelastungszeuge sichtlich fahrig.
Blutungen am Ohr
Dabei hatte der Richter nur zuvor aus einem ärztlichen Protokoll zitiert, das den Besuch von S. in der Notaufnahme in Lübben nach dem Vorfall in der Haasenburg GmbH dokumentiert. Dort waren Blutungen im Ohr und eine Handprellung diagnostiziert worden. Offenbar keine Schädigung nach Lesart des Richters. Schon vor Prozessbeginn hatte das Amtsgericht Lübben in einer Pressemeldung angekündigt, die Anti-Aggressionsmaßnahme sei „infolge des vorherigen Verhalten des Jugendlichen notwendig gewesen“. Das ließ aufhorchen.
Die Vorwürfe: Im Juni 2013 berichtete die taz als erste Zeitung erstmals umfassend über Misshandlungsvorwürfe in Jugendheimen der Haasenburg-GmbH in Brandenburg. Der freie Träger hatte in Brandenburg drei Heime mit 114 Plätzen, wo Kinder und Jugendliche geschlossen untergebracht waren.
Die Schließung: Die damalige brandenburgische Jugendministerin Martina Münch (SPD) ordnete daraufhin eine Untersuchung an. Eine Kommission stellte im Oktober 2013 gravierende Mängel fest, sodass die Haasenburg-Heime im Dezember 2013 geschlossen wurden.
Die Ermittlungen: In rund 50 Verfahren wird gegen Erzieher und Betreiber der Haasenburg-Heime Vorwürfe wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und Körperverletzung ermittelt.
Denn genau die Legitimität dieser Maßnahmen wird von den Fachleuten der Expertenkommission, die die Vorgänge in der Haasenburg untersuchten, in Abrede gestellt. Das dokumentieren sie in ihren Empfehlungen, die für das damalige Potsdamer Bildungsministerium als Grundlage dienten, dem fragwürdigen Betreiber der Haasenburg GmbH die Betriebsgenehmigung zu entziehen. Auch das Verwaltungsgericht Cottbus, das im Januar 2014 die Heim-Schließung bestätigte, formulierte „Anti-Aggressionsmaßnahmen“ stellten „kein zulässiges Erziehungsmittel und Regelinstrument der Grenzsetzung dar“.
Das Gericht bezog sich auf den Bericht der Untersuchungskommission. Dieser lagen Zeugenaussagen vor, die es als „gesichert“ erscheinen ließen, dass Anti-Aggressionsmaßnahmen von Betreuern „auch mitprovoziert wurden und dass dabei Bestrafungsabsichten für Verweigerungen wirksam wurden“. Ebenso könne der Eindruck entstehen, dass sie auch als „pädagogisches Mittel etwa zur Durchsetzung von Regeln eingesetzt wurden.“
Vier äußerst kräftige Haasenburg-Mitarbeiter
Davon jedoch weiß Richter Röhrig wenig: Hämatome, Blutungen am Ohr eines 16-Jährigen, verursacht von vier äußerst kräftigen Haasenburg-Mitarbeitern, hält der Richter womöglich für hinnehmbare Folgen der Erziehung. Nach den Einlassungen von S. attestierte der Richter dem Jungen gar einen „problematischen Intellekt“.
Zusammenfassend schilderte der Jugendliche den Vorfall so: Er sei in seinem Zimmer gewesen und war wütend, weil er nicht auf die Toilette durfte. Er habe die Fäuste geballt und bis zehn gezählt, weil das eine Übung seines früheren Anti-Aggressionstrainers gewesen sei, um sich zu beruhigen. Doch Erzieher K. habe das als Aggression gedeutet und Alarm ausgelöst. Dann sei ein kräftiger Erzieher von hinten gekommen und er habe einen Schlag am Kopf gesprüht. Er habe keine Faust, sondern Stoff gespürt. Dann sei er „kurz weg" gewesen und habe sich auf dem Boden in der Begrenzung wieder gefunden. Er habe in der Lippe und aus der Nase geblutet. Es habe nur einen kräftig gebauten Erzieher in der Gruppe gegeben, nämlich Sch.
Doch diese Verletzungen, gab der Richter später an, würden sich nicht in dem ärztlich Attest des Krankenhauses finden. Auf die Nachfrage der taz, ob Staatsanwältin Jessica Hansen den Notarzt befragt habe, der S. untersucht haben muss, gab sie keinen Kommentar ab.
Arme umgedreht, Beine gekreuzt
Als Zeugen waren auch drei ehemalige Erzieher der Haasenburg-GmbH geladen. Zwei von ihnen gaben Erinnerungslücken an. Deren Aussagen wiesen nach Meinung des Richters wie auch der Staatsanwältin „auffällige Ähnlichkeiten“. Deutlich wurde auch, dass sie die Art und Weise der Anti-Agressionsmaßnahmen bestätigten. Um S. zu „beruhigen“, wie der Angeklagte erklärte, wurden dessen Arme von zwei Leuten umgedreht, dann wurde er „sanft auf den Boden gelegt“. Dabei hielt einer den Kopf, einer kreuzte die Beine in Richtung Rücken und zwei hielten die Hände.
Und nun stellt das Amtsgericht Lübben schon vor Beginn der Verhandlung klar, dass die Maßnahmen, innerhalb derer ein Junge ins Gesicht geschlagen wurde, „notwendig“ war. Schon bei dem ersten Prozess im Januar, bei dem es um sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ging, hatte das Gericht den Sachverhalt mit dem Hinweis auf eine „Liebesbeziehung“ zwischen einem Erzieher und Mädchen bagatellisiert, das in dem Heim geschlossen untergebracht war.
Anders als Richter Röhrig kamen die Verwaltungsrichter in Cottbus bei ihrem Urteil, das die Schließung der Einrichtung bestätigte, zu dem Ergebnis, dass die ihnen vorliegenden Protokolle den Eindruck entstehen ließen, das Anti-Aggressionsmssnahmen „als Mittel Grenzsetzung, Machtausübung und Unterwerfung missbraucht wurden“. Die Entgegnung der Haasenburg GmbH, diese Maßnahmen so respektvoll wie möglich und nur in seltenen Fällen durchgeführt zu haben, bleibt für die Cottbusser Richter eine „bloße Behauptung, der schon die von ihr selbst zitierten Beispielsfälle widersprechen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind