Gutachten zu Brokstedt-Attentäter: Psychisch krank aber schuldfähig
Der Psychiater und Gutachter Arno Deister hält den Attentäter Ibrahim A. für schuldfähig. Dieser hatte 2023 in einem Zug auf Mitreisende eingestochen.
Der Psychiater und Gutachter Arno Deister vermutet eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) des Angeklagten. Trotzdem sei A. in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht eingeschränkt gewesen, sagt der Gutachter. Eine Unterbringung in der Psychiatrie und spätere Sicherungsverwahrung könne dennoch sinnvoll sein. Denn in einer normalen Haft könne A. eine Gefahr darstellen, und für die Zukunft seien weitere Taten nicht auszuschließen.
Ibrahim A. schaute meist zu Boden während der Aussage des Gutachters, einmal bat er um eine Pause: „Kopfschmerzen.“ Deister hatte ihn im Verhandlungssaal beobachtet und einige Gespräche mit ihm geführt. Bei den Treffen wurde A., der seit 2014 als Staatenloser in Deutschland lebt, stets unruhig, wenn er über sein Leben in Gaza sprechen sollte, und brach die Gespräche ab.
Entsprechend ausführlich ging Deister auf A.s mutmaßliche Erfahrungen in Gaza ein. Nicht alles ist klar, aber es gibt Aussagen über Haft und Verbrennungen durch die Hamas. Eine Ärztin, die A. kurz nach seiner Ankunft in Deutschland untersucht hatte, sprach von möglicher Folter, auch sie vermutete eine posttraumatische Belastungsstörung.
Anfang 2022 kam A. wegen einer anderen Gewalttat in Hamburg-Billwerder in Untersuchungshaft, die fast ein Jahr dauerte. In dieser Phase seien weitere Symptome hinzugetreten, darunter Halluzinationen und verschobene Wahrnehmungen: „Die redeten mit mir aus der Heizung, auch aus der Lampe, die haben mich über den Fernseher gesehen“, hatte A. dem Gutachter gesagt. Die Ärzte, die ihn in jener Phase behandelten, berichteten von psychotischen Symptomen – die aber nach Deisters Ansicht nicht Ausdruck einer tatsächlichen Psychose gewesen seien, sondern Teil der PTBS. Die Zeit im Gefängnis habe eine Retraumatisierung bewirkt.
Kurz ging der Gutachter darauf ein, ob Drogen eine Rolle gespielt haben. Hasch konsumierte A. bereits als Jugendlicher, in Deutschland kamen Heroin und Kokain hinzu – in welchen Mengen, sei unklar. Im Gefängnis bekam er die Ersatzdroge Methadon. Deister ließ durchblicken, dass er das etwas problematisch fand, da es keinen Beleg für eine Abhängigkeit gab. Möglich seien Entzugssymptome, als A. aus der U-Haft entlassen wurde, sie seien aber wohl nicht stark gewesen.
Im Januar 2023 ordnete ein Gericht A.s Entlassung an, weil die Dauer einer möglichen Strafe erreicht war. Auf die Freiheit gab es keine Vorbereitung, obwohl A. obdachlos war. Die Kieler Ausländerbehörde, bei der der Staatenlose gemeldet war, wusste weder von der Haft noch von der Entlassung. Die Zusammenarbeit der Behörden zu verbessern, versprachen beide Landesregierungen nach der Tat. Passiert ist wenig, immerhin schuf Hamburg ein Entlass-Management für Untersuchungshäftlinge und Schleswig-Holstein richtete eine Präventions-Ambulanz ein.
Damals war A. nach Kiel gefahren, um seine Papiere in Ordnung zu bringen. Auf der Rückfahrt geschah die Tat. Dass A. die Situation nicht real erlebte, hielt Deister für unwahrscheinlich. Zwar hätten einige Zeugen den Mann als teils emotionslos und unbeteiligt geschildert, andere ihn aber als zielgerichtet erlebt.
Damit bestätigt der Gutachter die Staatsanwältin Janina Seyfert. Sie beschuldigt A. des Mordes und versuchten Mords. Grund für den Angriff auf die Unbeteiligten im Zug könnte demnach gewesen sein, dass er in Kiel seine Angelegenheiten nicht klären konnte. Zu Deister hatte A.gesagt, er sei von seinem späteren Opfer, einem deutschen Schüler, auf Arabisch beleidigt worden, dagegen habe er sich wehren müssen.
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