: GutWetter machen
Kann Hamburg nicht schon 2040 klimaneutral sein? Die Aktivist:innen des „Hamburger Zukunftsentscheids“ werben dafür, dass die Hamburger:innen beim Volksentscheid am 12. Oktober mit „Ja“ stimmen
Aus Hamburg André Zuschlag (Text) und Miguel Ferraz Araujo (Fotos)
Hi, wir sind Tom und Luise und kommen vom Hamburger Zukunftsentsch…“ Der Mann in seinem unbeleuchteten Flur knallt die Tür wieder zu, noch ehe Luise den Satz beenden kann. Achselzuckend stehen die beiden einen kurzen Moment vor der wieder verschlossenen Tür und der davor liegenden Hausmatte, auf der zu lesen ist: „Achtung! Meine Wohnung. Meine Musik. Meine Regeln.“ Dann drehen sie sich im engen und dunklen Treppenhaus um und steigen in dem schlichten Nachkriegsbau in der Julius-Leber-Straße im Hamburger Stadtteil Altona-Nord eine Etage runter zu den nächsten beiden Wohnungstüren.
Es ist ein sonniger, aber kühler Spätnachmittag Ende September – und Hamburg befindet sich mitten in der heißen Wahlkampfzeit. Nur sind diesmal nicht die Konterfeis von Spitzenkandidat:innen auf den Plakaten zu sehen, und die Parteien laden auch nicht zu öffentlichen Kundgebungen auf Hamburgs Plätze, wie es noch im Frühjahr zur Bundestags- und Bürgerschaftswahl der Fall war.
Es sind zwei Sachfragen, über die die Hamburger Wahlberechtigten am 12. Oktober abstimmen können: ob in Hamburg ein Grundeinkommen getestet werden und ob Hamburg ein schärferes Klimaschutzgesetz bekommen soll. Um für Letzteres, den „Hamburger Zukunftsentscheid“ zu werben, haben sich am Nachmittag vor der nahegelegenen Schule neun Aktivist:innen zum Haustürwahlkampf getroffen. Sie sind überwiegend jung, überwiegend weiblich. In Zweier- und Dreiergruppen teilen sie sich auf und ziehen in die umliegenden Seitenstraßen.
Luise hat gerade Abi gemacht, Tom studiert. Beide sind schon ein paar Jahre bei Fridays for Future aktiv, und die Hamburger Ortsgruppe der Klimabewegung war es, die Ende 2023 beschlossen hat, als Volksinitiative über den Weg der direkten Demokratie im Stadtstaat Hamburg eine Politik für mehr Klimaschutz durchzusetzen. „Wir werben für ein sozialverträgliches, transparentes und verbindliches Gesetz, das Hamburg bis 2040 klimaneutral macht“, sagt Tom an der nächsten Tür, die geöffnet wird, zwei Stockwerke tiefer. Die ältere Frau nimmt den Flyer, den Tom ihr hinreicht, und schließt eilig die Tür.
Auch wenn die beiden an den ersten Türen noch kaum Überzeugungsarbeit leisten konnten – mit Pessimismus schlendern sie nicht zum Haus. Schließlich reitet die Volksinitiative seit ihrem Startschuss auf einer Welle des Erfolgs: In dem mehrstufigen Verfahren bis zum Volksentscheid hatten die Klimaaktivist:innen zunächst die nötigen Unterstützungsunterschriften in wenigen Tagen zusammengesammelt; auch die nächste Hürde, um eine Volksabstimmung zu erzwingen, gelang erstaunlich locker: 106.000 Unterschriften sammelten sie während des dreiwöchigen Volksbegehrens vergangenen Herbst. Weil es mit dem rot-grünen Senat in Verhandlungen zu keinem Kompromiss kam, dürfen nun die Wähler:innen im Volksentscheid direkt entscheiden, ob sie für oder gegen das vorgelegte „Klimaschutzverbesserungsgesetz“ sind.
2040. Fünf Jahre früher, als es bundesweit so weit sein soll, und früher auch, als der rot-grüne Hamburger Senat sich in seinem 2023 reformierten Landesgesetz vorgenommen hat. Da ist zum einen die Jahreszahl, mit der Klimaaktivist:innen nach der Reform unzufrieden waren und sich auf den Weg zum Volksentscheid machten, um das Gesetz erneut zu reformieren. Viel wichtiger vielleicht noch: Mit keinem der Adjektive – sozialverträglich, transparent, verbindlich – könne Hamburgs Klimapolitik aktuell beschrieben werden.
Tags zuvor hatten die Sprecher:innen des Zukunftsentscheids eilig zu einer Pressekonferenz eingeladen. Mit Wohlwollen wurde den Aktivist:innen seit ihrem Start vor knapp zwei Jahren meist in der Öffentlichkeit begegnet, Kritik war kaum wahrnehmbar. Schließlich steht gleich eine ganze Reihe Hamburger Institutionen hinter ihnen: die Umweltverbände, die Mietervereine, Gewerkschaften, Theater, Kirchen, der FC St. Pauli – und sogar Unternehmen wie die Carlsberg-Brauerei.
Nun aber, je näher der Termin rückt, an dem nicht mehr die Landespolitiker:innen entscheiden, sondern die Bürger:innen, wächst die Nervosität: Die Wohnungswirtschaft warnt vor steigenden Mieten, die Handels- und die Handwerkskammer vor wirtschaftlichen Schäden, der Sozialverband SoVD vor überlasteten Privathaushalten – und der SPD-Finanzsenator spricht gar von einem „Heizungsgesetz hoch zwei“ in Anlehnung an das von Robert Habeck (Grüne) vorangetriebene und anfangs verrissene Gebäudeenergiegesetz.
Das seien „bewusst überspitzte Angriffe“, sagt Annika Rittmann, Sprecherin des Zukunftsentscheids, vor der Presse, „falsche Behauptungen“, mit denen Angst geschürt werden solle. Dass Gegenwind kommt, überrasche aber nicht – an einem sozialverträglichen, transparenten und verbindlichen Gesetz hätten viele Akteure nun mal kein Interesse. Allen voran nicht die regierenden Politiker:innen Hamburgs. Die müssten sich in den kommenden 15 Jahren schließlich dem Gesetz beugen und auch Maßnahmen beschließen, die das Potenzial haben, unpopulär zu sein, die mehr Arbeit für Politik und Verwaltung bedeuten – und die ihren Überzeugungen widersprechen.
Jede künftige Klimaschutzmaßnahme müsste etwa künftig verpflichtend so ausgestaltet sein, dass „soziale und wirtschaftliche Härten insbesondere für Haushalte mit geringem Einkommen antizipiert und verhindert werden“, fordert die Initiative. Drohten etwa höhere Mieten durch energetische Sanierungen, müssen Härtefallregeln oder Förderungen geschaffen werden, um die Belastungen auszugleichen. Transparenz und Verbindlichkeit wiederum würde hergestellt, indem es künftig Zwischenziele in Form von CO2-Budgets für den Senat geben soll, die von Jahr zu Jahr schrumpfen. Wird das jeweilige Jahresziel gerissen, ist die Landesregierung verpflichtet, im Folgejahr ein Sofortprogramm zum Ausgleich vorzulegen. Was dann konkret für Aufschreie sorgende Maßnahmen auf den Tisch liegen werden, deutete ein Gutachten des Senats schon an: Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit auf Hamburgs Straßen etwa oder Fahrverbotszonen für Lkws mit Verbrennerantrieb im Hafen.
Dabei hat Hamburg eigentlich nur begrenzten Einfluss darauf, wie viel CO2 in der Stadt emittiert wird – viel ist abhängig von der Bundes- und EU-Politik, wenn es etwa um die Antriebsarten von Autos geht. Doch Befürworter:innen wie Gegner:innen des Zukunftsentscheids ist auch klar, dass Hamburg mit seiner Kompetenz als Bundesland deutlich mehr Einfluss in der Klimapolitik nehmen kann als einfache Städte: Die Ausgestaltung des ÖPNV etwa, dessen Ausbau entscheidend ist für das Erreichen der Klimaneutralität bis 2040, ist Ländersache. Ein schärferes Klimaschutzgesetz würde also nahezu jeden Lebensbereich in Hamburg tangieren.
Gutes Klima
Soll sich Hamburg gesetzlich dazu verpflichten, bereits bis zum Jahr 2040 klimaneutral zu sein? Über diese Frage können die rund 1,3 Millionen Wahlberechtigten am 12. Oktober abstimmen. Die Gesetzesvorlage verpflichtet den Hamburger Senat außerdem dazu, Maßnahmen zum Erreichen dieses Ziels zwingend sozialverträglich auszugestalten. Damit das Ziel erreicht wird, wird für jedes Jahr bis 2040 ein sinkender CO2-Emissionsgrenzwert festgesetzt. Wird er in einem Jahr überschritten, muss der Senat im Folgejahr Sofortmaßnahmen einleiten, um auf den vorgegebenen Pfad zurückzukehren.
Gutes Einkommen
Am selben Tag wird auch über den Volksentscheid „Hamburg testet Grundeinkommen“ abgestimmt. 2.000 Hamburger:innen sollen über einen Zeitraum von drei Jahren ein Grundeinkommen erhalten. Der Test soll wissenschaftlich überwacht werden, um so Schlüsse daraus zu ziehen.
Guter Termin
Die Aktivist:innen beider Volksentscheide wollten die Abstimmungen darüber auf den Tag der eigentlich in diesem Herbst anstehenden Bundestagswahl legen, um eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Kosten und Aufwand wären für die Wahlbehörde auch geringer gewesen. Der Bruch der Ampelkoalition und die vorgezogene Neuwahl des Bundestags verhinderte diesen Plan.
Gut informiert
taz Salon „Fängt die Zukunft früher an?“ mit Hamburgs Umweltsenatorin Katharina Fegebank (Grüne), Andreas Breitner (Verband Norddeutscher Wohnungsunternehmen) und Lou Töllner (Hamburger Zukunftsentscheid): 7. Oktober, 19.30 Uhr, Kulturhaus 73, Hamburg. Eintritt frei, Anmeldung unter: taz.de/salon
In die Tiefen des Gesetzesvorschlags geht es an den Wohnungstüren in Altona-Nord im Laufe des Spätnachmittags allerdings kaum. Vor einer der Erdgeschosswohnungen kommt es immerhin zum kurzen Austausch. Auf gebrochene Versprechen Joschka Fischers kommt der Mann zu sprechen, als er das Wort „Klima“ aus Toms Mund hört. Nach einigen Wehklagen über die herrschende Politik fragt er die beiden Wahlkämpfer:innen abschließend mit einem Lachen: „Also soll ich für Ja stimmen?“ Er will es sich nochmal überlegen, ob er wählen geht.
Für gute Laune sorgt bei Tom und Luise das nächste Haus. Auf dem Klingelschild des Altbaus mit großen Fenstern und hohen Geschossen drückt Luise bei der obersten Wohnung. Sie habe schon per Brief gewählt und für Ja gestimmt, berichtet die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Natürlich könne sie die beiden ins Haus lassen, um an den anderen Wohnungstüren zu klingen, auch wenn das unnötig sei: „Ihr lauft bei denen eh offene Türen ein.“
Tatsächlich: Mehr als eine Erinnerung, das Wählen nicht zu vergessen, ist bei den Gesprächen nicht nötig. Eine Frau öffnet kurz ihre Wohnungstür, will aber gar nicht groß ins Gespräch kommen. „Ich hab schon für euch gewählt – und stehe auf eurer jungen grünen Seite.“
Grün. Beim Hinuntergehen muss Luise darüber schmunzeln: Die Gegend hier in Hamburgs Westen ist Grünen-Hochburg und die Landespartei hat sich auch in einer öffentlichen Erklärung hinter die Klimaaktivist:innen gestellt, indes: Die bekanntesten Hamburger Parteigesichter, die Grünen-Senator:innen um Katharina Fegebank und Anjes Tjarks, halten sich mit jeder Unterstützung zurück – aus Koalitionsräson.
In der Koalition mit der SPD, die strikt gegen den Zukunftsentscheid ist, einigten sich beide Seiten auf eine magere Kompromissformel, an die sich beide Seiten öffentlich halten sollen: Ein klares Nein zum Zukunftsentscheid wird zwar vermieden, aber der bisher eingeschlagene Weg des rot-grünen Senats zur Klimaneutralität als „gut durchdacht, sozial gerecht und wirtschaftlich sinnvoll“ gepriesen.
Dass mangelnde Unterstützung aus der Hamburger Parteienlandschaft nicht viel bedeuten muss, zeigten schon die vergangenen beiden Volksabstimmungen, an die auch Zukunftsentscheid-Sprecherin Rittmann nochmal erinnert: Gegen die Rekommunalisierung der Hamburger Energienetze warben vor zwölf Jahren der damalige Bürgermeister Olaf Scholz und seine SPD-Alleinregierung zusammen mit CDU, FDP und Wirtschaftsverbänden – erfolglos. „Heute sehen wir: Das hat sich als richtige Entscheidung erwiesen“, sagt Rittmann beim Pressegespräch.
Und auch beim Referendum 2015 über Hamburgs Olympiabewerbung waren sich alle Parteien mit Ausnahme der Linken einig und siegessicher. Die Überraschung, dass die Hamburger Wähler:innen dann knapp mit Nein votierten, war umso größer.
Gute Vorzeichen für den anstehenden Klima-Entscheid? Seitdem die Wahlzettel – in Hamburg kann damit auch direkt per Brief gewählt werden – verschickt wurden, fragen die Aktivist:innen regelhaft beim Landeswahlleiter nach, wie viele Wahlbriefe schon zurückgeschickt wurden. Ende September war die Zahl noch übersichtlich.
„Dass wir die Mehrheit erreichen, glaube ich schon“, sagt Luise beim Gang zum nächsten Haus. Nur das mit dem Quorum – die Mindestanzahl abzugebender Stimmen zu erreichen – könnte schwierig werden. Wäre die Ampelregierung im Bund nicht frühzeitig geplatzt, hätten beide Abstimmungen in diesem Herbst zeitgleich mit der Wahl stattgefunden. So müssen die Aktivist:innen genug Menschen motivieren, nur ihretwegen zur Abstimmung zu schreiten.
Ohne parallel stattfindende Wahl, die ohnehin ausreichend Wähler:innen an die Urne bringt, könnte die Hamburger Initiative enden wie einst Klimaaktivist:innen in Berlin: Beim dortigen Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ holten sie vor zwei Jahren zwar eine knappe Mehrheit. Doch weil sie das nötige 25-Prozent-Zustimmungsquorum deutlich verfehlten, scheiterte der Entscheid. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Klimakrise in bundesweiten Umfragen noch zu den drängendsten Problemen zählte.
Gerade das aber scheint manche Hamburger:innen erst recht zu motivieren. Ja, sie hat die Wahlunterlagen schon und will mit Ja stimmen, sagt eine Frau, die sich von Luise und Tom noch ein paar Flyer für Bekannte in die Hand drücken lässt. Und warum? „Gerade weil das Klima gerade für niemanden ein Thema ist, muss man da doch nun dran bleiben“, sagt sie und wünscht den beiden Aktivist:innen mit den Flyern in ihren Jutebeuteln noch viel Glück bei den Nachbarn.
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