Grundrechte in Corona-Krise: Ansteckende Freiheit
Nein, die Grundrechte sind nicht abgeschafft. Aber die Pauschalität der Seuchenbekämpfung lässt an ihrer Rechtfertigung zweifeln.
E s war abzusehen: Je länger die coronabedingten Notverordnungen wirken, umso stärker wächst nicht nur unter FDP-Wählerinnen der Unmut über massive Grundrechtseingriffe. Auch das Bundesverfassungsgericht hat am letzten Mittwoch in einem Urteil zur Versammlungsfreiheit ein warnendes Zeichen gesetzt.
Zwar gelten die Grundrechte keineswegs „absolut“, die Verfassung selbst sieht die Möglichkeit von Eingriffen vor. Doch unterliegen diese Einschränkungen ihrerseits Schranken – im juristischen Jargon „Schranken-Schranken“ genannt. Pauschale Eingriffe sind unzulässig, jeder Einzelfall muss geprüft werden und sich mit Blick auf Härte und Dauer des Eingriffs als „verhältnismäßig“ erweisen.
Auch wenn derzeit keine Rede davon sein kann, dass wir uns im „Krieg“ befinden, dass eine politische „Ermächtigung“ stattgefunden hat und die Grundrechte „abgeschafft“ sind: Die panische Pauschalität, mit der die Seuchenbekämpfung auch völlig gesunde Menschen antastet, lässt an ihrer Rechtfertigung zweifeln. Selbst wenn der Vergleich ein wenig hinkt: Es ist, als wolle man die Kriminalität bekämpfen, indem man auch alle Unschuldigen als Gefährder einstuft und präventiv einsperrt. Im viralen Schockzustand mögen politische Vorstöße dieser Art verständlich anmuten. Aber nun wird es Zeit, Bilanz zu ziehen: Treffen diese Zwangsmaßnahmen stets die „Richtigen“ oder manchmal eben auch die Falschen? Und selbst wenn sie die Richtigen treffen: Sind all diese mit der epidemiologischen Gießkanne gestreuten Verordnungen gleichermaßen verhältnismäßig?
Nehmen wir an, wir wüssten in jedem einzelnen Fall sehr genau, was wir faktisch natürlich nicht wissen, wer alles infiziert ist und wer nicht. Nehmen wir zudem an, es sei gerechtfertigt, infizierte Menschen bedingt abzuschotten. Wäre dies auch dann gerechtfertigt, wenn es um nachweislich gesunde Menschen ginge? Das sind allein hierzulande rund 83 Millionen Menschen. Muss man diese allesamt davon abhalten, infiziert zu werden? In einem liberalen Rechtsstaat muss die Antwort lauten: nein!
Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Autor sowie Mitherausgeber zahlreicher Publikationen zur Philosophie der Menschenrechte.
Der Staat hat nicht paternalistisch dafür Sorge zu tragen, dass es uns allen gut geht. Er sagt uns ja auch nicht jeden Morgen: „Zieh dich warm an, wenn du das Haus verlasst!“ Der liberale Rechtsstaat mag die Aufgabe haben, Kranke in Quarantäne zu schicken, aber die Freiheit, die im Wörtchen „liberal“ steckt, ist immer auch die Freiheit gesunder Menschen, persönliche Gefahren bis hin zur eigenen Ansteckung eingehen zu dürfen – solange man eben nicht selbst ansteckend ist.
Deshalb ist die Aussicht darauf, massenhaft testen zu können, auch grundrechtlich essenziell. Um im Gedankenexperiment zu bleiben: Wären tatsächlich alle getestet und blieben alle Infizierten daheim, so wäre es in einem Rechtsstaat nicht länger auch nur denkbar, weiterhin auch diejenigen ans Haus zu fesseln, deren Test negativ ausgefallen ist. Man wird hier einwenden: Gerade weil wir faktisch eben doch nicht wissen, wer ansteckend ist, weil Menschen oft unvernünftig sind und eine gefährliche Knappheit an Intensivbetten herrscht, ist die Pauschalität der Maßnahmen eben doch gerechtfertigt. Aber das ist ein Irrtum. Für den unverantwortlichen Mangel an medizinisch technischer Versorgung sind Politik und Wirtschaft, nicht aber die einzelnen Grundrechtssubjekte verantwortlich. Zahllose gesunde Menschen müssen so ein eklatantes Systemversagen mit unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre Grundrechte bezahlen.
Das Recht spricht bei solchen Abwägungen gern vom Schutz „höherer Rechtsgüter von Verfassungsrang“: die Bewahrung des Friedens oder der öffentlichen Ordnung etwa, der Fortbestand der Demokratie oder eben die Gesundheit der Bevölkerung. Dies würde bedeuten, dass es auch andere als bloß grundrechtliche Gründe für derartige Eingriffe gibt, die primär dem Schutz des Kollektivs dienen. Können die Grundrechte der Individuen tatsächlich durch diese anderen Rechtsgüter „übertrumpft“ werden?
Nur zur historischen Erinnerung: Die Grund- und Menschenrechte wurden und werden in Verfassungen und völkerrechtlichen Konventionen festgeschrieben für genau solche Momente – in denen das politische Kollektiv meint, sich über das Individuum hinwegsetzen zu dürfen. Die Grundrechte sind ihrerseits „Trümpfe“, wie der Philosoph Ronald Dworkin sagte, da es zu deren Begriff gehört, nicht schon durch außermenschenrechtliche Erwägungen außer Kraft gesetzt werden zu dürfen.
Illegitime Verletzung von Grundrechten
Daraus folgt, dass Eingriffe, die sich nicht selbst auf grundrechtliche Ansprüche zurückführen lassen, illegitime Verletzungen dieser Rechte darstellen. Mit Blick auf infizierte, erkrankte, alte oder vorerkrankte Menschen mag eine solche Rechtfertigung tragbar sein: Die Beschränkung der Freiheit eines ansteckenden Menschen etwa wird durch den Schutz des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit anderer aufgewogen. Hier kollidieren Grundrechte, und der geplante Eingriff in eines der beiden Rechte bedeutet dann lediglich, dass das andere aus diesem Konflikt als „Sieger“ hervorgegangen ist.
Doch wie gesagt: Dazu muss die Person, erstens, infiziert sein. Und dieser Zwang muss ihr, zweitens, auch in dem Sinn zugemutet werden können, dass es dabei nicht zu einer noch schwereren Verletzung der Rechte von anderen kommt. Vollends unverhältnismäßig wird staatlicher Zwang dann, wenn er die „Menschenwürde“ antastet. Artikel 1 Grundgesetz ist ein besonderes Grundrecht, weil es ausnahmsweise keine Ausnahmen zulässt. Der Würdebegriff mag schwammig anmuten. Aber wenn etwa die Regierung von Sachsen über die Zwangseinweisung von Quarantäneverweigerern in die geschlossene Psychiatrie nachdenkt oder wenn alte Menschen fernab ihrer Familie in unfreiwilliger Isolation sterben müssen, so ist selbst diese Grenze überschritten.
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