Grüner Nouripour zur Energiekrise: „Wir halten am Atomausstieg fest“
Grünen-Co-Chef Omid Nouripour bekräftigt im taz-Interview das Festhalten der Partei am Atomausstieg: „Wir werden sicher keine neuen Brennstäbe bestellen.“
taz: Herr Nouripour, am Freitag beginnt der Bundesparteitag der Grünen. Macht er Ihnen große Sorgen?
Omid Nouripour: Ich spüre große Vorfreude. Es ist der erste richtige Parteitag seit 2019, danach war alles nur digital oder hybrid. Jetzt kommen wir wieder zusammen. Und ich freue mich sehr darauf, viele alte und neue Gesichter zu sehen, miteinander zu diskutieren, zu lachen und auch ein bisschen feiern zu können – zum Beispiel die erfolgreichen Landtagswahlen, zuletzt die in Niedersachsen.
Vor der Party kommen erst mal die Debatten, und die könnten hart werden. Die Zahl der Kompromisse, die für Grüne schwer zu ertragen sind, hat zuletzt noch mal zugenommen. Irgendwann trägt die Partei vielleicht nicht mehr alles mit.
Diskussionen sind notwendig, deswegen führen wir sie auch durchgehend. Wir haben seit Monaten jede Woche mehrere Calls mit den Landesverbänden. Wir kommunizieren über alle Ebenen hinweg, erklären Entscheidungen und holen Meinungsbilder ab. Auch am Wochenende wird es Diskussionen und Abstimmungen über den richtigen Weg geben. Insgesamt spüre ich aber eine große Geschlossenheit.
Omid Nouripour
Jahrgang 1975, hat seit Jahresbeginn gemeinsam mit Ricarda Lang den Bundesvorsitz von Bündnis 90/Die Grünen inne. Seit 2006 sitzt er für die hessischen Grünen im Bundestag.
Auch in der Frage der Atomkraft?
Wir sind die Anti-Atom-Partei. Wir werden sicher keine neuen Brennstäbe und damit neuen Atommüll bestellen. Was Robert Habeck und Steffi Lemke gerade vorbereiten, ist eine Reserve für den Notfall, damit in Süddeutschland die Netzstabilität erhalten bleibt. Was ist denn die Alternative? Nichts tun und die Energiesicherheit aufs Spiel setzen? Wir halten am Atomausstieg fest und zugleich ist die Breite der Partei nicht im großen Clinch mit dem Reservebetrieb. Wir haben über 40 Jahre gewartet. Drei Monate machen nicht den Unterschied.
In der Koalition stellt sich die FDP quer, weil sie mehr als drei Monate Reservebetrieb will. Könnten die Grünen doch noch einknicken?
Nein. Der Atomausstieg steht. Aber es geht jetzt kurzfristig darum, wie wir über den Winter kommen. Ich bin irritiert darüber, dass Absprachen über ein so wichtiges Thema wie die Netzstabilität in Süddeutschland nach Wahlergebnissen nicht mehr gelten sollen. Das ist kein Spiel. Auch mit dem Zeitplan darf man nicht spielen, die Betreiber brauchen Planungssicherheit.
Wie sicher sind Sie sich, dass die Reserve am Ende wirklich benötigt wird?
Sicher bin ich nicht. Aber die Zahlen aus Frankreich sind eher Anlass zur Sorge.
Überarbeiten Sie an dieser Stelle noch den Leitantrag des Bundesvorstands? Darin hatten Sie vor gerade mal vier Wochen geschrieben, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Reserve gebraucht wird.
Das schauen wir uns bis zum Parteitag noch mal an.
Dass die Grünen ihre Einschätzung so schnell fundamental geändert haben, dient nicht gerade ihrer Glaubwürdigkeit.
Was ist denn glaubwürdiger, als Veränderungen in der Realität zur Grundlage eigener Entscheidungen zu machen. Vor vier Wochen hatten uns die Franzosen noch schriftlich gegeben, dass sie eine bestimmte Strommenge produzieren. Nun rechnen sie mit deutlich weniger.
Omid Nouripour über die FDP in der Frage der Atomkraft
Malen Sie sich manchmal aus, was es bedeuten würde, wenn in den drei Monaten Streckbetrieb eines der Atomkraftwerke in die Luft ginge?
An Ihrer Frage sieht man doch: Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie und wir werden die AKWs keinen Tag länger laufen lassen dürfen als nötig. Dennoch können wir die Menschen in Bayern nicht mit einem instabilen Stromnetz allein lassen, nur weil die CSU jahrelang ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Gerade weil es um einen Gründungsmythos der Grünen geht, könnte die Partei wohl dichtmachen, falls es bis März einen Super-GAU gäbe.
Bei einem Super-Gau gäbe es wirklich andere Probleme als die Parteienlandschaft.
Vergangene Woche hat Robert Habeck mit RWE einen Kompromiss zum Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen vereinbart. Wird die Debatte darüber auf dem Parteitag schwieriger oder einfacher als die zur Atomkraft?
Erst einmal: Dass der Kohleausstieg 2030 im Rheinischen Revier kommt, ist ein großer Erfolg – für uns, aber auch für die Klimabewegung. Schmerzhaft ist, dass jetzt kurzfristig mehr Kohle verstromt wird. Aber wir brauchen schnelle Lösungen für diesen und vielleicht für den nächsten Winter. Abgesehen davon geht es darum, jetzt den Ausbau der Erneuerbaren hinzukriegen. In diesem Bereich haben wir trotz Krise schon mehr vorangebracht als die Vorgängerregierungen in den letzten 16 Jahren.
Die Klimabewegung ist trotzdem wütend darüber, dass RWE die Kohle unter dem Dorf Lützerath abbauen und verfeuern darf. Es gibt erste Parteiaustritte. Wie gefährlich ist der Unmut der Bewegung für die Grünen?
Wir stehen mit vielen aus der Klimabewegung in engem Austausch. Auf der anderen Seite mussten wir aber abwägen: Die Kohlekraftwerke im Westen acht Jahre früher vom Netz nehmen, weniger Kohle verfeuern und mehrere Dörfer retten oder Lützerath als Symbol schützen? In der Abwägung finde ich die erzielte Vereinbarung richtig.
Es wird hässliche Bilder geben, wenn die Polizei im Auftrag einer grünen Landesregierung in Lützerath gegen Aktivist*innen vorgeht.
Es ist im Sinne aller, dass es eine friedliche Lösung gibt.
Auf dem Parteitag wird es auch um die Inflation und deren soziale Folgen gehen. Eine Gruppe um Katrin Göring-Eckardt fordert in einem Antrag eine Vermögensabgabe zur Bewältigung der Krise. Werden Sie dafür stimmen?
Richtig ist, dass starke Schultern stärker tragen müssen. Richtig ist aber auch, dass wir kleine und mittlere Unternehmen nicht noch mehr belasten dürfen. Wir sind in guten Gesprächen über eine gemeinsame Formulierung, die das alles zusammenbringt.
Eine Vermögensabgabe mit Ausnahmen für Betriebsvermögen also?
Wie gesagt: Wir sind darüber im Gespräch.
Laut einer Umfrage trauten in Niedersachsen nur 3 Prozent der Wähler*innen Ihrer Partei am ehesten zu, die hohen Preise zu bekämpfen. Liegt es an der Schwäche in sozialen Fragen, dass die Grünen bei der Landtagswahl schlechter abgeschnitten haben als in Umfragen aus dem Sommer?
Es ist unser Job, alles dafür zu tun, dass Energie bezahlbar und die Inflation beherrschbar bleibt. Deshalb haben wir auf gezielte Maßnahmen für die unteren Einkommensgruppen gedrängt – mit Erfolg. Unter anderem gibt es mehr Geld für Kinder, Familien, Wohngeldempfänger, wir haben in der Ampel auch die Anhebung des Mindestlohns durchgesetzt. Die Energiepreise hingegen bleiben nur auf einem Weg dauerhaft bezahlbar: durch den Ausbau der Erneuerbaren. Deshalb haben wir hier das Tempo massiv erhöht.
Welche Möglichkeiten bleiben den Grünen nach Doppelwumms und Gaspreisbremse aber unmittelbar noch, um ihr soziales Gewissen zu demonstrieren?
Wir sorgen in der Ampel für eine gute Sozialpolitik. Einerseits entlasten wir kurzfristig. Dafür haben wir bisher drei Entlastungspakete in Höhe von 95 Milliarden Euro beschlossen. Wir haben die Wohngeldreform, die vielen Einmalzahlungen, die Regelsatzerhöhung beim Bürgergeld und vieles mehr herausverhandelt. Da ist also viel geschafft. Andererseits bleibt natürlich noch etliches zu tun, und das geht über die Inflationsbekämpfung hinaus. Nach 16 Jahren Entscheidungsstau stellt sich die Frage: Wie machen wir das Land krisenfest? Das betrifft auch strukturelle Herausforderungen wie den Einsatz gegen Kinderarmut. Ein zentrales Projekt dafür ist die Kindergrundsicherung, die die Familienministerin in dieser Legislatur auf den Weg bringt. Und natürlich müssen wir über die Finanzierung reden, das betrifft auch die Schuldenbremse.
Aber es gibt doch jetzt den kreditfinanzierten 200-Milliarden-Topf.
Die 200 Milliarden sind ein Riesenschritt nach vorne, damit schützen wir die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Aber wir stehen vor Transformationsaufgaben, die der Abwehrschirm ja nicht umfasst. Das betrifft natürlich die Energiepolitik, aber damit hört es nicht auf. Ganz akut sehen wir das beim Schutz der kritischen Infrastruktur. Fragen Sie mal beim Katastrophenschutz, wie viele Hubschrauber sie zur Verfügung haben. Wir müssen in den Schutz unserer kritischen Infrastruktur investieren, in den Bevölkerungsschutz, aber auch in Bereiche wie die Anpassung an die Klimakrise. Das kostet Geld, ist aber wichtig, damit der Staat weiterhin seine Kernaufgaben erfüllen kann.
Die Aussetzung der Schuldenbremse im nächsten Jahr wird mit der FDP aber nicht zu machen sein, schon gar nicht nach deren Wahlniederlage in Niedersachsen. Das hat Christian Lindner sehr deutlich gemacht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ergebnis in Niedersachsen irgendjemanden auf die Idee bringt, weniger Verantwortung zu übernehmen. Alle im Bund und alle in der Koalition wissen, dass wir in schwierigen Zeiten handeln müssen.
Letztes Thema für den Parteitag: Außenpolitik. Die Bundesregierung hat vergangene Woche den Export von Kampfjet-Zubehör nach Saudi-Arabien genehmigt. In einem breit getragenen Dringlichkeitsantrag gibt es daran starke Kritik.
Ich halte Lieferungen an Saudi-Arabien angesichts der dortigen Menschenrechtslage und der Lage im Jemen grundsätzlich für falsch. Egal, wer liefert. Gleichzeitig müssen wir im Rüstungsbereich europäischer werden und wir haben es in Europa mit Partnern zu tun, die in der Frage ganz anders denken als wir. Der deutsche Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien bleibt. Die Frage ist, wie wir ihn ausgeweitet bekommen auf europäische Gemeinschaftsprojekte, um die es in der jüngsten Entscheidung ging.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Darüber sprechen wir gerade. Im jüngsten Fall ging es ja um Altverträge, die noch auf eine Entscheidung der GroKo zurückgehen. Entscheidend für die Zukunft wird sein, wie wir ein Rüstungsexportgesetz ausgestalten. Davon unbenommen empfinde ich es als misslich, dass die Bundesregierung nicht auch öffentlich machen darf, welche Exportanträge sie bisher schon alle abgelehnt hat.
Vor Ihrem Amtsantritt sagten Sie uns in einem Interview, dass Sie den Grünen-Vorsitz als Scharnier sehen würden: Sie erklären der Partei das Regierungshandeln und tragen umgekehrt Wünsche der Partei an die grünen Kabinettsmitglieder heran. Gerade haben Sie aber vor allem in eine Richtung argumentiert: Sie werben um Verständnis für die Nöte Ihrer Minister*innen.
Ich habe ja gerade gesagt: Jede einzelne Lieferung, die Saudi-Arabien nutzt, um weiter Krieg im Jemen zu führen, ist eine zu viel. Trotzdem bleibt es dabei, dass es europäische Partner gibt, die weiter in diese Länder liefern wollen. Ich könnte zwar mit einer Justitia-Waage nach Leuten schmeißen. Am Ende löse ich damit aber kein Problem. Ich kann versichern, dass wir dazu auf allen Ebenen der Partei in einem ständigen offenen Austausch sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern