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Grüner MdB über die Arbeit der Jobcenter„Keine Drangsalierer“

Der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Strengmann-Kuhn hat während der Sommerpause vier Tage im Jobcenter hospitiert. Er sagt: Die Klischees stimmen nicht.

Aus dem Offenbacher Arbeitsamt des Jahres 2004 ist längst ein Jobcenter geworden - mit einem „großen Instrumentenkasten“ Foto: imago/Udo Kröner
Alina Leimbach
Interview von Alina Leimbach

taz: Vor etwas mehr als zehn Jahren haben die Grünen Hartz IV und damit das Credo des Förderns und Forderns miteingeführt. Vor einigen Tagen haben Sie im Jobcenter Offenbach inspiziert, wie das Prinzip in der Praxis funktioniert. Und?

Strengmann-Kuhn: Es war erst einmal interessant. Sozialamt und Arbeitsagentur kenne ich aus eigener Erfahrung, weil ich vor über zwanzig Jahren mal Sozialhilfe als Aufstocker bezogen habe und weil ich zwischen meinen Stationen als Wissenschaftler zeitweise arbeitslos war. Generell war es im Jobcenter anders, als es oft dargestellt wird. Die Betreuer entsprechen nicht dem Klischee, das sind nicht die Drangsalierer. Und auch die Leistungsberechtigten sind nicht die Schmarotzer, die Faulenzer. Die sind sehr aktiv und wollen sich an der Gesellschaft beteiligen.

Was ist Ihnen im Offenbacher Jobcenter besonders aufgefallen?

Offenbach ist eine Optionskommune und hat deswegen mehr Spielraum, was die Strukturen angeht. Beispielsweise werden die Selbstständigen separat beraten, weil die ganz andere Probleme haben als Arbeitslose. Auch die Aufstocker, die mehr als geringfügig beschäftigt sind, müssen nicht extra in die Arbeitsvermittlungsprogramme. Das schafft Entlastung für die Betreuung der Arbeitslosen.

Bild: archiv
Im Interview: 

51, ist sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Er gilt als Angehöriger des linken Flügels innerhalb der Partei.

In anderen Jobcentern ist es teilweise so, dass sich die Vermittler um alle Personen kümmern müssen. Egal ob Erwerbslose, Menschen mit Drogenproblemen, Selbstständige, die gar keine spezifische Hilfe bei der Arbeitssuche brauchen, oder Vollzeitbeschäftigte, die Hartz IV nur deshalb beziehen, weil sie noch Kinder zu versorgen haben.

Dass ein Mensch arbeitslos ist, kann vielfältige Gründe haben. Haben die Jobcenter-Mitarbeiter auch das geeignete Instrumentarium?

Es gibt auch vielfältige soziale Probleme, die dafür verantwortlich sein können, dass Menschen langzeitarbeitslos sind. Nicht bei allen, aber bei vielen. Da gibt es im Jobcenter Offenbach einen großen Instrumentenkasten. Der Vermittlungsvorrang bei der Arbeitssuche, das heißt, dass so schnell wie möglich in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden soll, ist aber problematisch. Das haben mir einige Mitarbeiter so rückgemeldet. Der Druck, Menschen schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zu vermitteln, überlagert manchmal andere Dinge wie soziale Unterstützung oder auch Weiterbildung, die mindestens die gleiche Priorität haben sollten.

Sind Sie dafür, den Vermittlungsvorrang abzuschaffen?

Es wäre wichtig, diese zwei Ziele im Arbeitslosengeld II als eigenständige Ziele zu beleuchten, also einerseits die Vermittlung in den Arbeitsmarkt und andererseits die finanzielle Grundsicherung. Denn teilweise gibt es einen Konflikt zwischen den beiden. Das zentrale Ziel einer Grundsicherung sollte meiner Meinung nach die Existenzsicherung sein. Ich wäre sogar dafür, die Grundsicherung wieder stärker von der Arbeitsvermittlung zu trennen, auch um Sicherungslücken zu schließen und das Grundsicherungssystem zu vereinfachen und konsistenter zu gestalten.

Waren Sie selbst bei einem Fall dabei, in dem Sanktionen erlassen wurden?

Es gab einen Fall. Das war aber nicht im persönlichen Gespräch, sondern eine Mitarbeiterin musste schriftlich wegen eines Meldeversäumnisses eine Sanktion verhängen. Die derzeitigen Sanktionsregelungen finde ich überaus problematisch. Von den MitarbeiterInnen gab es sehr unterschiedliche Rückmeldungen hierzu. Einige meinten: „Ohne Sanktionen kriegen wir es nicht hin.“ Andere sagten, die seien kontraproduktiv und manche haben sich für Änderungen, aber nicht für eine vollständige Abschaffung ausgesprochen.

Also kann eine Sanktion im Einzelfall durchaus Sinn ergeben?

In wenigen Einzelfällen ja, da kann eine kleine Sanktion durchaus sinnvoll sein. Das habe ich jetzt auch in meiner Hospitation gelernt. Im Bundestag haben wir Grünen ja den Antrag gestellt, maximal zehn Prozent des Satzes zu kürzen. Wichtig ist, dass es ein garantiertes Existenzminimum gibt. So ein Fall wie gerade in Berlin mit Ralph Boes, dem 100 Prozent gestrichen wurden, ist menschenunwürdig. Deswegen wollen wir ein Sanktionsmoratorium, um die Sanktionsregeln grundlegend zu überarbeiten.

Wie sähe so eine Existenzsicherung im Idealfall aus?

Mein Vorschlag wäre, dass jede und jeder 400 Euro als Basis erhält, als Minimum und unabhängig davon, ob man sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt oder nicht. Dann entstünden auch keine Versorgungslücken, weil man erst auf die Bewilligung warten muss. Menschen, die sich dann arbeitslos melden, könnten noch einmal zehn Prozent zusätzlich bekommen – also 40 Euro. Die Bestrafungslogik der Sanktionen würde umgedreht hin zu einem positiven Anreiz.

400 Euro sind ein Euro mehr als der jetzige Hartz IV-Regelsatz. Wären da schon Wohnkosten enthalten?

Plus zehn Prozent für diejenigen, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Wohnkosten sind da nicht mit drin. Die würden zusätzlich je nach Bedarf, der ja sehr unterschiedlich sein kann, gewährt. Das ist auch eine weitere Schlussfolgerung aus meiner Hospitation: Ich würde den ganzen Bereich Wohnen ebenfalls von der Arbeitsvermittlung trennen und die Leistungen bündeln, von der finanziellen Unterstützung, über Versorgung mit Wohnraum bis hin zu Unterstützung gegenüber Vermietern, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen.

Wer sich nicht „fördern“ lassen will, dem drohen im jetzigen System Sanktionen. Passt das mit den Grünen zusammen, die versuchen, sich stärker als liberale Partei zu positionieren?

Nein. Das war auch für uns nie die Hauptmotivation bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die Grundsicherung ist das Wesentliche. Es muss ein Existenzminimum für alle ohne Sicherungslücken garantiert sein. Darüber hinaus sollte mit Belohnungen statt Bestrafungen gearbeitet werden. Nötig ist eine emanzipative Grundsicherung, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und unterstützt, ohne Zwang.

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15 Kommentare

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  • „Er gilt als Angehöriger des linken Flügels innerhalb der Partei…“

    B90/Die Grünen haben einen linken Flügel? Mit Angehörigen?

  • Ach, auf die Kommentare der taz-Leser ist bei diesem Thema doch Verlass. Durchweg gute Punkte untenstehend - schade und etwas erschreckend, dass solche Kritik nicht im Artikel bzw. Interview selbst zu finden ist.

     

    A propos: Der Herr Abgeordnete legt zwar geballte Naivität und Unkenntnis an den Tag, was die Tragweite der Probleme des Jobcentersystems a.k.a. Agenda 2010 anbelangt. Aber immerhin benennt er doch einige Bedenken im Interview.

    WIESO betitelt die taz das denn mit "Keine Drangsalierer"; als ob DAS der wichtigste Punkt des Ganzen wäre? Ich bin nicht ganz sicher, ob diese Art von alles-supi-mit-der-Agenda Betitelei eher die Haltung der taz oder von WSK zum Ausdruck bringt - oder welches von beiden schlimmer wäre.

  • Schönes Beispiel wie Die Grünen heute ticken, hat ja Jutta Ditfurth schon oft ausführlich dargelegt....

  • "Wolfgang Strengmann-Kuhn hat während der Sommerpause vier Tage im Jobcenter hospitiert". Ist er im Jobcenter angekommen und hat gesagt: "Vergessen Sie mal wer ich bin und machen Sie Ihre Arbeit so wie immer" ? Was will uns Herr Strengmann-Kuhn denn hier auftischen? Dass seine Hospitation im Jobcenter irgendeinen Wert darstellt und auch der Realität nahe kommt? Wenn man sich vorher als Politiker im Jobcenter anmeldet, ist es doch wohl offensichtlich, dass man keine Missstände vorfindet.

     

    Wolfgang Strengmann-Kuhn: " [...] Plus zehn Prozent für diejenigen, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen". Von welchem Arbeitsmarkt spricht er denn? Etwa den Arbeitsmarkt der 1970er Jahre, in dem es noch keine Computer, Automaten, Fabrikstraßen und GPS gesteuerte Landmaschinen gab? Schön wäre es doch, wenn sich einmal ein Politiker wieder in die Realität des kleinen Bürgers begeben würde.

  • Warum soll ich arbeiten gehen, wenn ich nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sowieso wieder so behandelt werde als hätte ich nie einen Finger krumm gemacht.

     

    Selbst, wenn ich 30 Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe? Nach einiger Zeit HartzIV ist eine Privatinsolvenz sowieso viel lohnender wie Arbeiten.

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    "Generell war es im Jobcenter anders, als es oft dargestellt wird."

     

    Wenn er wirklich so denkt, weil er keinen Plan von Beobachtereffekten auf das Feld der Beobachtung hat, sollte er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften noch mit zwei Semestern Sozialforschung ergänzen. JournalistInnen könnten natürlich nachhaken, aber wer weiß wo das enden würde.

    • @24636 (Profil gelöscht):

      „JournalistInnen könnten natürlich nachhaken, aber wer weiß wo das enden würde.“

       

      „somewhere over the rainbow.“ You remember?

       

      Es kann teuer werden, wenn bei PolitikerInnen zu genau nachgefragt wird.

    • @24636 (Profil gelöscht):

      Das ist bei Unterrichtsbeobachtungen von Lehrern leider auch so ein "Beobachtereffekt"... War übrigens auch mein erster Gedanke.

       

      Und außerdem mag der GRÜNE Herr vielleicht auch mal was beantragt haben, noch vor HartzIV bzw. ALGII!!! und dann auch mal kurzzeitig als Wissenschaftler arbeitslos war, vermutlich dann noch im ALG I-Bereich und auch schon länger her.

       

      Herr GRÜNER auch im ALG I-Bezug wird man heute als Wissenschaftlicher noch anders, nämlich besser behandelt als im ALGII-Bezug! ALGII ist das, was viele Menschen betrifft, immer mehr, wenn sie nicht aus der Statistik geschmissen werden und was man allgemein unter "Hartzer" versteht.

       

      Ihre Einfühlsamkeit gleicht der eines Studenten, der ebenfalls sagt, ihm würden 300 € im Monat auch reichen, aber sonst alles zusätzlich von Eltern und Großeltern bezahlt bekommt, günstig wohnt und sonst keine Verpflichtungen hat, zu Studentenpreisen Eintritt bekommt und ein Semsterticket hat.

       

      Bitte liebe GRÜNEN, schaut Euch das Thema ALG II etc. mal politisch genauer an, da würdet Ihr einiges an Handlungsbedarf sehen können und vielleicht mal entsprechend politisch agitieren. Ökologie ist das letzte, was Euch irgendwie an Themen geblieben ist, vielleicht kommen jetzt auch noch Flüchtlinge hinzu, aber um Soziales in D kümmert Ihr Euch definitiv nicht und wenn doch, dann grottenschlecht (siehe Harzt IV und Folgen, Behindertenrechtskonvention etc.).

  • Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, das der Niedriglohnsektor erst durch Hartz IV möglich war und auch in vollem Bewußtsein von Rot-Grün geschaffen wurde.Die GÜNEN sollen jetzt nicht so tun als wären sie doch ein wenig gegen dieses unsägliche und zudem grundgesetzwidrige Armutssystem.Denn sie waren die Hartz IV Komplizen der SPD die es ohne Widerstand zugelassen haben.

    Wundersamerweise sind diejenigen die das Hartz IV Sytem befürworten just diejenigen, die eigentlich damit so rein garnichts am Hut haben.

    Für jede Fachkraft ist der Niedriglohnsektor das berufliche Ende,aus dem es, vor allem für über 50jährige kein Entkommen gibt.

    Wie der Elitenforscher Michael Hartmann schon richtig deutete,daß sich mit dem Hartz IV Regime die Lebensverhältnisse sehr vieler Bürger massiv verschlechtert haben und nicht umgekehrt,wie in der Politik oft behauptet wird.

     

    Meine Stimme bekommt die SPD sowie die Grünen nie wieder.BASTA!!

     

    Einen schönen Tag.

  • In der Hoffnung - daß der

    Herr Strengmann-Kuhn seinen

    Jaroslav Haśek kennt:

     

    "Baronin von Botzenheim setzte sich auf den herbeigeschobenen Stuhl und sagte in gebrochenem Tschechisch:

    'Tscheski Soldat, brav Soldat, Kripplsoldat sein tapfer Soldat, moc gern tscheski Österreicher.'

    Dabei streichelte sie Schwejks unrasierte Wangen und fuhr fort:

    'Alles in Zeitung gelesen, ich Ihnen bringen Papar, Tabak, Zuzat, tscheski Soldat, brav Soldat, Johann, kommen Sie her!'…

     

    Doktor Grünstein …'Sie kennen die Frau Baronin?'

    'Sie ist meine Stiefmutter', antwortete Schwejk,' in zartem Alter hat sie mich aus gesetzt, und jetzt hat sie mich wiedergefunden……'

    Und Doktor Grünstein sagte kurz:

    'Dann geben Sie dem Schwejk noch ein Klistier.'"

     

    Leider ist solches heute bei

    Lügenbaronen nicht mehr üblich.

    Schade eigentlich.

  • Der durch HartzIV verursachte Nebenschaden für Normalverdiener ist höchstwahrscheinlich deutlich höher als das, was an Kosten entstünde, wenn man komplett auf Sanktionen verzichten würde. HartzIV - so wie es derzeitig gehandhabt wird, verursacht Bedürftigkeit dadurch, das das begleitende allgemeine Lohndumping immer mehr Arbeitnehmer zu Aufstockern werden läßt. Daraus entstehen zusätzlich Steuer- und Sozialversicherungsverluste, die abgefangen werden müssen, was im Regelfall zu noch mehr Sozialabbau führt. Und unter dem Strich leidet auch die Binnenwirtschaft, weil Menschen nur soviel Geld ausgeben können, wieviel vorhanden ist.

  • "Mein Vorschlag wäre, dass jede und jeder 400 Euro als Basis erhält,..."

     

    Peter Hartz und seine Kommission hatten 2002 einen Basissatz von 511 Euro vorgeschlagen, das wären heute 564 Euro. Rot-GRÜN hatte sich jedoch damals auf 346 Euro "geeinigt".

     

    Lieber Herr Strengmann-Kuhn, wie lebt es sich in Wolkenkuckucksheim?

    • @John Doe:

      Guter Hinweis und gute Frage ;-)

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "Mein Vorschlag wäre, dass jede und jeder 400 Euro als Basis erhält, als Minimum und unabhängig davon, ob man sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt oder nicht."

     

    Wishful thinking.

    Die paradoxe Kombination aus nicht abbaubarer Arbeitslosigkeit und dem auf die Jobcenter-"Kunden" ausgeübten Druck erzeugt den erwünschten Disziplinierungseffekt weit in die Mittelschicht hinein. Für ein exportorientiertes Land ein wichtiger Standortfaktor.

  • Wissen Sie, es gibt auch Jobcenter da klappt das mit den elektronischen Überweisungen, da muss mensch nicht mehrmals im Monat für 50€ Barauszahlungen Schlange stehen.

    Aber dann gilt immer noch das Hartz-IV-Gesetzespaket:

    es schreibt die Vermittlung in Niedriglohn-Jobs vor, man muss jede freie Stelle annehmen, auch wenn die "Anbieter" immer weiter runtergehen mit dem was sie "anbieten".

    Und wenn man das nicht möchte, dann helfen die beim Vermitteln ein bisschen nach.

     

    Oder wollen Sie eine Position vertreten, die Hartz-IV fortschreibt?