Grünen-Gesundheitsexperte zu Impfpflicht: „Sie haben ein Recht auf Schutz“

Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen will eine Impfpflicht in wenigen Einrichtungen. Auch für lokale Lockdowns spricht er sich aus.

Eine alte Frau sitzt in einem Seesel und bekommt einen Nasenabstrich von einer Frau in Schutzkleidung

Seniorenheim in Brandenburg: Eine Einrichtung, wo Menschen für Andere verantwortlich sind Foto: Jens Kalaene/dpa

taz: Herr Dahmen, sind Sie für eine allgemeine Corona-Impfpflicht?

Janosch Dahmen: Nein. Eine allgemeine Impfpflicht ist im Moment kein geeignetes Instrument, um eine höhere Impfquote zu erreichen. Sie würde bei den Ungeimpften eher eine Abwehrhaltung hervorrufen und die Debatte polarisieren.

Ist Furcht vor Polarisierung das entscheidende Argument? Die Zahl der Neuinfektionen schießt in die Höhe, die Corona-Situation eskaliert.

Als Politiker muss ich mir immer überlegen, mit welchem Instrument ich ein Ziel am besten erreiche. Wir müssen die Impflücken in der Bevölkerung schließen und massiv das Boostern stärken, also die Auffrischungsimpfung für derzeit als vollständig geimpft geltende Menschen. Würde das Ampelbündnis jetzt eine Impfpflicht ins Spiel bringen, würde sich die Debatte wochenlang darum drehen – und dadurch auf der Stelle treten.

Aber die Regierung in spe ist dazu verpflichtet, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Warum nimmt sie so viel Rücksicht auf Menschen, die erwiesenermaßen falsche, für andere gefährliche Positionen vertreten?

Verfassungsrechtlich könnte man eine allgemeine Impfpflicht gut begründen, keine Frage. Aber ungeimpfte Menschen sind nicht alle verbohrte Spinner. Als Arzt tausche ich mich eng mit KollegInnen auf mehreren Intensivstationen aus. Die Ungeimpften, die da gerade in kritischem Zustand liegen, sind mehrheitlich keine Hardcore-Coronaleugner, sondern Menschen mit wenig Geld, wenig Bildung und schlechtem Zugang zum Gesundheitswesen. Außerdem ist auch ein relevanter Teil der Geimpften gegen eine allgemeine Impfpflicht.

ist Arzt und Bundestagsabgeordneter für die Grünen. Bis November 2020 war er als Oberarzt im Rettungsdienst Berlin bei der Berliner Feuerwehr tätig für die Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Das heißt: Es braucht nur eine bessere Informationskampagne, damit die Impfquote steigt?

Die Menschen in Deutschland waren in den vergangenen eineinhalb Jahren mit einem undurchsichtigen Regelwerk konfrontiert, das sich ständig änderte. Außerdem war es zu lange möglich, trotz der Gefährdung Anderer, problemlos ungeimpft durch den Alltag zu kommen. Es fehlte also das Wissen, aber auch der Druck, sich mit dem Thema Impfen ernsthaft auseinanderzusetzen. Beides muss sich ändern. Andere Länder in der EU beweisen, dass hohe Impfquoten auch ohne Pflicht erreichbar sind. In Österreich scheinen die Einschränkungen für Ungeimpfte nun ebenfalls die Impfquote anzukurbeln.

Ihre Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kündigte am Montag eine Impfpflicht in Pflegeheimen und Kitas an – und musste sich wenig später korrigieren, weil SPD und FDP protestierten. Wie kann so etwas passieren?

Das besprechen wir intern. Wir werden über diese und andere Maßnahmen mit unseren Partnern in der Ampel reden. Sie müssen in einem weiteren Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht werden.

Warum sind Sie für eine Impfpflicht in bestimmten Einrichtungen – aber gegen eine allgemeine Impfpflicht?

Eine einrichtungsspezifische Impfpflicht ist etwas anderes und besonders sinnvoll, weil sie vulnerable Gruppen schützt. Sie muss für das Personal in Pflegeheimen, aber etwa auch in Kindertagesstätten, in Schulen oder in Krankenhäusern gelten. Überall dort, wo Menschen für andere Menschen beruflich Verantwortung tragen, ist die Impfentscheidung keine rein individuelle. Es geht dann auch um den Schutz der ihnen Anvertrauten.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein 25-jähriger Pfleger, der in einer Altenpflegeeinrichtung arbeitet, hat ein geringeres Risiko, ernsthaft an Corona zu erkranken, weil er jung und gesund ist. Als Individuum könnte er glauben, dieses Risiko für tragbar zu halten. Aber die hochbetagten Menschen, die er pflegt, vertrauen unserer Gesundheitsversorgung und begeben sich in dessen Obhut – sie haben ein Recht auf Schutz. Deshalb bin ich in bestimmten Einrichtungen für die Impfpflicht.

Wie soll das technisch funktionieren? Was passiert mit dem Pfleger, wenn er die Impfung verweigert?

Die ArbeitgeberInnen wären dafür verantwortlich, den Impfstatus bei ihren Angestellten zu erfragen – und bei Neueinstellungen zu überprüfen. Wenn jemand nicht geimpft ist, bekommt er eine Frist, in der er die Impfung nachweisen muss. Tut er das nicht, kann er freigestellt oder auch gekündigt werden.

Die Ampel-Partner wollen 3G am Arbeitsplatz durchsetzen. ArbeitnehmerInnen müssen also geimpft, genesen oder getestet sein. Wer nicht mitzieht, darf dann auch gekündigt werden?

Es ist das gleiche Prinzip, ja. 3G soll für alle Berufe mit Personenkontakt gelten, also für fast alle. Wenn ein Arbeitnehmer in Zukunft sagt, ich bin nicht geimpft und genesen, und ich habe keine Lust, mich jeden Tag zu testen, dann hat er kein Recht mehr, sich in der Anonymität zu bewegen – weil er andere Menschen gefährden kann.

Fauxpas der Grünen

Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hatte am Montag im Bundestag eine einrichtungsspezifische Impfpflicht angekündigt – und bestätigte auf Nachfrage, dass dies ein Konsens mit der FDP und SPD sei. Wenige Stunden später ruderte sie zurück und sagte, dass es über eine Impfpflicht in wenigen Einrichtungen „keine Einigung“ gebe.

Termin für den Koalitionsvertrag

Trotz der Unstimmigkeiten hält die mögliche künftige Ampelkoalition an ihrem Plan fest, in der kommenden Woche einen Koalitionsvertrag vorlegen zu wollen.

Was ist aus Ihrer Sicht das entscheidende, was in der Pandemiebekämpfung jetzt noch passieren muss?

Der Faktor Zeit ist enorm wichtig. Wir verlieren viel zu viel Zeit. Im Moment streiten wir über Regeln, die ab Dezember gelten. Mich besorgt sehr, dass wir darüber aus dem Blick verlieren, was man sofort und in den nächsten zwei Wochen tun kann. Zwei Wochen sind angesichts der rasant steigenden Zahlen eine Ewigkeit. Es geht hier übrigens nicht nur um medizinische, sondern auch um Fragen der politischen Kultur.

Wie meinen Sie das?

Ich glaube, dass hier eine Ursache für den verbreiteten Frust in der Bevölkerung über die Coronapolitik liegt. Nicht-Handeln in der Vergangenheit, zu spätes Handeln in der Gegenwart und emotional aufgeladener Streit über künftiges Handeln – der Eindruck der Handlungsunfähigkeit nagt am Grundvertrauen der Menschen in den Staat.

Was muss aus Ihrer Sicht jetzt sofort passieren?

Das hochgefährliche Infektionsgeschehen in manchen Regionen muss gebrochen werden. In Bayern oder Sachsen müssten regionale Lockdowns durchgesetzt werden, um das lokale Geschehen besser unter Kontrolle zu bringen. Dort müssen Kontakte beschränkt werden.

Ihr Parteichef Robert Habeck schlägt generell Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte vor. Sind Sie seiner Ansicht?

Im vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann regierten Baden-Württemberg ist das geplant, dort sollen bei anhaltender Belastung Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte angeordnet werden. Dieser Kurs ist richtig. Eine große Gefahr liegt gerade darin, dass die vielen ungeimpften CoronapatientInnen in den Krankenhäusern unsere Notfallversorgung ins Wanken bringen. Zugespitzt: Der geimpfte Autofahrer, der einen schweren Unfall hat, bekommt kein Intensivbett mehr, weil alle durch Ungeimpfte belegt sind.

Taugt die Unterscheidung in Geimpfte und Ungeimpfte überhaupt noch, wenn der Schutz der Geimpften stetig abnimmt, weil sie noch nicht geboostert wurden?

Das ist ein wichtiger Punkt. Irgendwann geht diese Logik nicht mehr auf. Schon bald wird eine große Zahl von doppelt Geimpften wieder anfällig für Infektionen sein, weil ihr Schutz nachlässt – und wir mit dem Boostern nicht hinterher kommen. Es wurde verpennt, im Sommer das Boostern vorausschauend zu organisieren.

Die Ampel will die epidemische Notlage von nationaler Tragweite aufheben. Ist das angesichts der Lage nicht schlicht verantwortungslos?

Unterm Strich kommt es auf die konkreten Maßnahmen an. Aber die Kommunikation war verbesserungswürdig. Ich finde gut, dass wir nach der Empörung jetzt zu der Debatte kommen, was besser laufen muss.

Nur schlechte Kommunikation? Die Ampel wollte den Bundesländern das Recht nehmen, Lockdowns, Schulschließungen und Ausgangssperren zu verhängen. Wie konnte es zu dieser Fehleinschätzung kommen?

Wir haben nun nachgeschärft. Ich gehöre zu den Menschen, die immer gewarnt haben, dass die Pandemie nicht vorbei sei – und dass die vierte Welle im Herbst kommt. Das Bewusstsein für diese Tatsache ist bei Manchen erst in den vergangenen zwei Wochen gewachsen.

Aber Corona spaltet die Ampel. FDP-Chef Christian Lindner verspricht in der Bild-Zeitung, dass es keinen weiteren Lockdown geben wird. Sie erzählen mir gerade das Gegenteil.

Erstens hat uns die Pandemie bisher gelehrt, dass man absolute Versprechungen besser sein lassen sollte. Zweitens befinden wir uns noch mitten in Koalitionsverhandlungen. Wenn die Ampel regieren sollte, dann wäre es sinnvoll, bessere Strukturen für das Krisenmanagement einzurichten als die letzte Regierung.

Verzeihung, der Konflikt ist doch offensichtlich.

Es geht mir für die Zukunft um einen neuen Modus des Krisenmanagements. Wir brauchen ein konstituiertes, an die Regierung angedocktes Gremium, das wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Medizin in die Politik einspeist. Ein solches muss die Ampel einrichten. Dann erledigen sich manche Debatten von selbst.

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