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Grünen-Chef über Flucht und Integration„Überfällige Bekenntnisse umsetzen“

Cem Özdemir will ein Ministerium, das Fragen der Integration koordiniert. Es soll sich um die Entwicklung eines „neuen Wir“ kümmern.

Sprachkenntnisse sind enorm wichtig. Deutschunterricht in einer Willkommensklasse in Berlin Foto: dpa

taz: Herr Özdemir, die grüne Gretchenfrage ist: Noch mehr sichere Herkunftsländer, ja oder nein? Wie stehen Sie dazu?

Cem Özdemir: Wenn ich mir die Situation der Roma anschaue oder die Tatsache, dass die Bundeswehr im Kosovo an der Friedenssicherung beteiligt ist, kann man schwer davon sprechen, dass diese Länder für alle Menschen sicher sind. Außerdem ist uns die Bundesregierung den Beweis schuldig, dass dieses Instrument überhaupt zu einer Entlastung führt.

Allerdings sehen wir natürlich auch, dass nur wenige Asylsuchende aus dem Kosovo oder aus Albanien tatsächlich in Deutschland anerkannt werden. Deshalb brauchen wir mehr Aufklärung vor Ort, alternative Zugangswege auf den deutschen Arbeitsmarkt über ein noch zu schaffendes Einwanderungsgesetz und eine glaubwürdige EU-Beitritts-Perspektive, die mit Reformen und wirksamer Korruptionsbekämpfung flankiert werden muss. Wichtig ist, dass beim Bund-Länder-Gipfel eine Lösung gefunden wird, die die ganze Gesellschaft im Blick hat.

Was heißt das?

Es geht im Moment vor allem darum, den Bürgermeistern in den Kommunen, den Helfern vom DRK, THW oder von der freiwilligen Feuerwehr und den Bürgern, die ehrenamtlich in Flüchtlingsunterkünften arbeiten, zu helfen – egal ob sie CDU, SPD oder Grüne wählen. Die erwarten von uns, dass wir die Probleme lösen. Dazu gehört übrigens auch, die Integration anzugehen und nicht die Probleme der Gastarbeiterzeit zu wiederholen.

Was lief damals falsch?

Nehmen Sie die Generation meiner Eltern: Die Bundesrepublik wollte sich nicht eingestehen, dass viele dieser Menschen dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Sie hat sich viel zu lange dieser Realität verweigert. Das Staatsangehörigkeitsrecht hat Rot-Grün damals gegen die Union durchgesetzt. Deutschland ist ein Einwanderungsland, der Islam gehört zu Deutschland, solche Sätze gehen Merkel heute geschmeidig über die Lippen. Das waren vor nicht allzu langer Zeit Sätze, die wie Wasserscheiden zwischen der rechten und linken Mitte waren. Nun müssen diese überfälligen Bekenntnisse auch in Politik umgesetzt werden.

Was muss Deutschland dieses Mal besser machen?

Bild: dpa
Im Interview: Cem Özdemir

49, ist Parteichef der Grünen. Er wurde als Sohn türkischer Eltern in Urach bei Reutlingen geboren. Ein deutsches Ehepaar aus der Nachbarschaft unterstützte die Familie bei der Integration und brachte Cem Özdemir die schwäbische Sprache bei.

Aus meiner Sicht müssen wir in Zukunft einen Dreiklang organisieren: Flüchtlinge und Einwanderer müssen über die Sprache integriert werden. Sie brauchen Jobs. Und wir dürfen uns um Fragen der kulturellen Integration nicht herumdrücken.

Gehen wir die Forderungen einmal Schritt für Schritt durch: Dieses Jahr kommen wahrscheinlich 800.000 Flüchtlinge, viele davon werden langfristig bleiben. Wie wollen Sie ihnen allen Deutsch beibringen?

Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, keine Frage. Wir müssen Kurse massiv ausdehnen, auf alle, die kommen. Denn wenn jemand kein Deutsch spricht, entgehen uns seine fachlichen Qualifikationen. Nach fünf oder zehn Jahren ohne Deutschkenntnisse kann man niemanden mehr vernünftig in den Arbeitsmarkt integrieren. Diese Kurse werden Geld kosten, aber es ist gut angelegt.

Die Länder suchen schon jetzt händeringend nach Deutschlehrern. Mit pensionierten Studienräten werden sie den Personalbedarf kaum decken können.

Deutschland wird improvisieren müssen. Da ist die gesamte Gesellschaft gefragt, ehrenamtliche und hauptamtliche Helfer wachsen ja jetzt schon über sich hinaus. Aber sicher ist: Wenn die Leute hier dauerhaft eine Chance haben sollen, brauchen sie professionelle Sprachkurse.

Außerdem müssen wir Kenntnisse über Deutschland vermitteln: Wie funktioniert unser Schulsystem? Wie wichtig ist Altersvorsorge? Wir brauchen einen Fahrplan zur Integration, damit sich die Menschen in unserer Gesellschaft zurechtfinden. Dazu gehört, dass jeder Neueinwanderer eine Art Fibel bekommt, in der all diese Fragen beantwortet werden.

Neben Qualifizierten, die damit etwas anfangen können, kommen auch ungebildete Flüchtlinge. Die ins deutsche Sozialsystem zu integrieren wird teuer.

Aus der Portokasse wird sich das nicht finanzieren lassen. Es geht ja auch um Kinderbetreuung, Wohnungsbau und Gesundheitsversorgung. Die Integration ist ein Mammutprojekt. Ich prophezeie Ihnen: Dieses Thema an eine Beauftragte der Bundesregierung zu delegieren reicht bald nicht mehr aus. Das könnte in Zukunft das zentrale Ressort im Kabinett werden.

Bisher ist der Posten der Integrationsbeauftragten im Kanzleramt angesiedelt. Sie wollen stattdessen ein Integrationsministerium aufbauen?

Ein eigenständiges Integrations- und Einwanderungsministerium könnte sich um die notwendige Entwicklung eines „neuen Wir“ in Deutschland kümmern. Dafür muss es in diesem Bereich den Hut aufhaben und alle Aufgaben koordinieren.

Ob mit eigenem Ministerium oder nicht: Integration kostet Geld. Wie wollen Sie die Zuwanderung finanzieren? Durch neue Schulden, höhere Steuern oder Kürzungen in anderen Bereichen, wie es Finanzminister Schäuble vorgeschlagen hat?

Ich rate nicht dazu, jetzt eine Debatte über die Schuldenbremse oder höhere Steuern zu führen. Erst mal muss eine realistische Kostenschätzung auf den Tisch, und dann können wir die Finanzierung besprechen. Klar ist: Kommunen und Länder werden die Unterstützung des Bundes brauchen. Da muss der Bund in die Verantwortung und muss alle Hebel in Bewegung setzen.

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6 Kommentare

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  • Dass Integration hierzulande ausschließlich über Geld und Sprache funktioniert, ist richtig – und es ist ein mittleres Problem.

     

    Nach 1989 hat die BRD 18 Millionen Ossis integriert, und zwar ausschließlich über Geld. Es gab weder einen "Fahrplan für die Integration", noch gab es eine "Fibel", die gelernten DDR-Bürger den Westen erklärt hätte, in den sie eingemeindet worden sind. Für Türken, schließlich, hat es auch keine gegeben. Man hat erwartet, dass die Leute sich alleine helfen. Oder da hin gehen, wo es Hilfe gibt. Wo, ganz genau, das war und wer da welche Hilfe finden konnte, das mussten Ossis aus der Zeitung lernen, aus Fernseh- oder Radiosendungen. Die Ossis hatten damals Glück. Sie konnten jene Sprache sprechen, in denen Wessis miteinander redeten. Die, allerdings, die Sprache nicht gut wollten oder konnten, weil ihre Eltern auch schon nicht geredet haben, sondern getrunken oder zugeschlagen, sind dabei außen vor geblieben. Das rächt sich jetzt in Dresden, Jena oder anderswo. Genau so, wei es sich im Westen rächt.

     

    Cem Özdemir ist einer, der von außen kam. Einer, der Lücken sichtbar machen kann. Seine Kompetenzen liegen da, wo seine Berufskollegen keine haben und auch keine haben können. Er hat erlebt, woran es hierzulande fehlt beim Thema Integration. Bisher hat er versucht, den Deutschen Konkurrenz zu machen auf ihrem eigenen Terrain. Das sah mitunter etwas albern aus. Viel besser ist er meiner Ansicht nach, wenn er bei sich ist und bei den Erfahrungen, die er gemacht hat, life und farbig, wie zum Beispiel hier. Leider muss er gerade wieder mal nur fordern und nicht fördern. Er kann sich also drauf beschränken, zu sagen: "Geld her oder Leben!" Das ist ein Satz, den alle Menschen denken können. Woher es kommen soll, das Geld? Das soll mal schön der Schäuble sagen. Soll er doch "Hebel in Bewegung setzen"! Und sicher: Schäuble wird das liebend gerne tun. Auch wenn er keine Ahnung hat. So ist er halt, der blöde Deal.

    • @mowgli:

      Cem Özdemir *21. Dezember 1965 in Urach

      kam nicht von außen

      sondern ist ein beispiel von vielen dafür, dass im innen immer ganz schön viel außen steckt

       

      ansonsten; einspruch.

      "Dass Integration hierzulande ausschließlich über Geld und Sprache funktioniert" ist ein phänomen etwas neueren datums.

      davor funktionierte sie über arbeit, genauer darüber, dass es mal gewerkschaften gab, denen daran lag, gleiche rechte für alle arbeiterinnen durchzusetzen, und denen das auch durchzusetzen gelang, zumindest teilweise.

      und sie funktionierte über internubium, genauer über frauen, welche sich "fremde" zum gespons erwählten.

      das eine wie das andere zog nach sich, dass mann in 'schland lernen mußte, deutsch als fremdsprache zu unterrichten.

       

      das hat bis '89 relativ gut geklappt - ausgenommen im bereich asyl - da stellte mann 1967 mit entsetzen fest, dass dieses nicht nur von strammen anti-kommunisten aus dem ostblock, sondern auch von kommunisten aus griechenland in anspruch genommen werden konnte und genommen wurde ... die weitere geschichte ist bekannt.

  • Das wird aber auch höchste Zeit. Für meinen Geschmack hat man sich viel zu spät Gedanken solcher Art gemacht. Aus Fehlern sollte man eigentlich lernen und die Gastarbeiterjahre sollten ja eigentlich lehrreich genug gewesen sein. Ich hoffe das sich die Politik hier schneller bewegt. Im Sinne der Flüchtlinge und der bereits in Deutschland lebenden Bevölkerung.

    • @Erik Rothe:

      Sie haben völlig recht, es wurde höchste Zeit. Doch woher soll das Neue kommen, wenn sich das Alte munter selber klont? Herr Özdemir ist einer, der längst überfällig war. Und wenn er nun nicht unbedingt der bessere Bildungs-Deutsche sein bzw. werden wollte, dann könnte er vielleicht etwas bewegen, auch in der Politik. Weil er etwas von dem versteht, was andre nicht verstehen wollen oder können. Man braucht einen Bezug, sonst lernt man einfach nicht.

  • Der neue Mensch soll geschaffen werden. Und wie er zu sein hat, bestimmt die Regierung. Sorry aber: Nein Danke

    • @Herbert Tok:

      Je nun. Wieso bestimmt es eigentlich nicht mal die Opposition? Ich sag es Ihnen: Weil die Leute denken, man muss die Macht besitzen und das Geld, damit man was bewegen kann. Doch das ist völlig falsch. Im Augenblick sind alle überfordert, wer jetzt eine Idee hat, die was hilft, dem wird sofort gefolgt, macht hin oder her, Geld oder nicht. Man will ja schließlich an der Führungsspitze nicht ganz dumm da stehn, wenn die Fotoapparate blitzen. DEN neuen Menschen? Braucht man gar nicht schaffen. Es reicht, wenn man den alten überzeugt.