Grüne und ihr Grundsatzprogramm: Raus aus der Nische

Die Grünen stellen ihr neues Grundsatzprogramm vor. Es klingt sehr mittig und nicht mehr ganz so ökig.

Die Grünen-Spitze in Berlin

Grünen-Spitze Habeck, Baerbock und Kellner bei der Vorstellung des Grundsatzprogramms Foto: Kay Nietfeld/dpa

„Wir wollen weder geschmeidig noch dickköpfig sein“, sagt Grünen-Chef Robert Habeck am Freitag und lächelt knapp. Das ist so ein Habeck-Satz, anschaulich, klar, ohne technokratischen Politsprech. Die Grünen stellen den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm vor. Das letzte ist von 2002, lange her. Das neue soll zeigen, dass die Ökoliberalen sich ganz anders verstehen als früher. Wir sind, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, „nicht mehr die Korrektur“, man wolle jetzt führen. Raus aus der Nische, auf ins Kanzleramt.

Zwei Jahre haben die Grünen am Programm gefeilt. Zwei Konvente gab es, eine Sommerakademie, etliche Regionalkonferenzen. Beschlossen werden soll es im November in Karlsruhe, wo die Partei vor vierzig Jahren gegründet wurde. Bis November kann sich an dem Entwurf noch etwas ändern, den Habeck als „eine Art Betaversion“ bezeichnet. Es gibt grünentypisch viel Basisbeteiligung und Rückkopplungsschleifen.

Die Ambitionen sind gewaltig. Parteichefin Annalena Baerbock spricht von einem „Programm für die Breite der Gesellschaft, das unseren Führungsanspruch für und mit dieser Gesellschaft untermauert“. Viel ist von ­Mehrheitsfähigkeit die Rede. Das Programm soll sympathisch rüberkommen. Man habe sich „abgewöhnt, negativ zu schreiben“, sagt ein grüner Spitzenpolitiker.

Ambitioniert in der Haltung, gemäßigt in der praktischen Konsequenz – alle sollen mitgenommen, niemand soll verschreckt werden. Alarmismus und Dystopie, die einst zum grünen Repertoire gehörten, sollen die gute ­Stimmung nicht mehr trüben. Der erste Satz der Prä­ambel des Grundsatzprogramms von 1980 lautete: „Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen ­Parteien.“ 2020 klingt das weicher, ­wolkiger. Der Titel „Veränderung schafft Halt“ könnte auch zum Motto für Kirchentage taugen.

Europa als föderale Republik

Entschlossen, ohne Einerseits-andererseits und visionär wirkt alles, was zu Europa gesagt wird. Die Grünen wollen die EU langfristig zur föderalen Europäischen Republik weiterentwickeln. Auf fast allen Politikfeldern, von der Landwirtschaft bis zur Außenpolitik, wird Bezug auf Europa genommen. Europa ist die Leitidee der Grünen, noch stärker als früher.

Bei anderen fundamentalen Fragen ist die Ökopartei von den Ideen von gestern abgerückt. Zum Beispiel Demokratie. 1980 blickte die Partei noch skeptisch auf den Parlamentarismus und forderte die plebiszitäre Einbeziehung der Bürger:innen mit „regionalen, landesweiten und bundesweiten Volksabstimmungen“.

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Im Grundsatzprogramm 2002 strebte die Partei ebenfalls noch den Ausbau der direkten Demokratie „von der kommunalen bis zur Bundesebene“ an. Und im Wahlprogramm 2017 war zu lesen, dass „Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide in die Verfassung“ gehörten.

Davon ist nicht mehr die Rede. Jetzt wollen die Grünen nur noch die Möglichkeit von „Bürgerräten“ schaffen, in denen zufällig ausgewählte Bürger:innen konkrete Vorschläge machen dürfen. Allerdings sollen sie „rein beratende Funktion“ haben. Plebiszitäre Elemente und direkte Demokratie fehlen. Von einem „klaren Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie“ spricht Baerbock.

Außerparlamentarische Bewegungen scheinen der einstigen Bewegungspartei mittlerweile eher suspekt. Das lässt sich als Desillusionierung lesen. 1980 war für die Grünen die erfolgreiche Volksabstimmung gegen das AKW Zwentendorf in Österreich leuchtendes Vorbild. Die heutigen Grünen blicken auf das Brexit-Referendum 2016.

Fast diplomatisch

Die Frage der Kriegseinsätze hat die Grünen mal fast zerrissen. Das neue Programm klingt auf den ersten Blick diplomatisch. Die Frage, was zu tun sei, wenn es „schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gebe, aber kein UN-Mandat für eine militärische Intervention, lässt man offen. Dann, so heißt es, „steht die Weltgemeinschaft vor einem Dilemma“.

Das sei zu wenig, kritisiert der Ex-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele. „Dieses Dilemma kann es geben, aber wer hat das Recht, es zu lösen“, fragt er. „Die Erfahrung zeigt: Wenn es kein UN-Mandat gibt, führt man den Krieg eben ohne Mandat.“ Auch dass ein Bundeswehreinsatz im Programmtext als das „äußerste Mittel“ beschrieben wird, hält der Alt-Grüne für dürftig. „Tatsache ist: In Mali, Kosovo und Afghanistan war der Einsatz nicht das letzte Mittel“, sagt Ströbele der taz.

Streit gab es vorab über die Gentechnik. „Nein zu Gentechnik“ gehört gewissermaßen zur DNA der Partei. Allerdings nicht mehr so wie früher. Die neue Technologie Crispr-Cas9, bei der nichts Fremdes in das Erbgut implantiert wird, sondern Sequenzen des Gencodes herausgeschnitten werden, hat auch einflussreiche Grüne in Grübeln gebracht. Theresia Bauer, Wissenschaftsministerin in Baden-Württemberg, plädiert schon lange dafür, dass die Ökopartei „der Gentechnik eine Chance geben sollte“.

Andere wie Ex-Landwirtschaftsministerin Renate Kü­nast sind skeptisch und halten Crispr eher für Marketing der Agrarkonzerne. Das Grundsatzprogramm liest sich nun offen: „Forschung zu neuer Gentechnik soll gestärkt werden“ heißt es dort, aber Anwendungen nur nach „strengen Zulassungsverfahren“ zum Einsatz kommen können.

Dieser Balanceakt soll das frühere Nein zur Gentechnik mit pragmatischer Öffnung verknüpfen. Die Ökopartei will bloß nicht wissenschaftsfeindlich wirken. Künast hält die Formel gleichwohl für richtig. „Der Entwurf stellt das Notwendige klar“ sagt sie der taz. Damit unterstützen die Grünen das re­striktive europäi­sche Zulassungsverfahren für Gentechnik.

Immer kritisch abgepuffert

Die Zauberformel, die die neuen Verheißungen der Technik als Motor der ökologischen Moderne mit alter Skepsis verbindet, heißt Vorsorgeprinzip: Bei technologischen Lösungen sei „immer der Abwägung von Nutzen und Schäden, die mögliche Umkehrbarkeit sowie die Eingriffstiefe zu berücksichtigen“. Oder wie es Habeck formuliert: „Hilft Technik, oder hilft sie nicht?“ Das – immer kritisch abgepufferte – Vertrauen in die Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft als Feder ökologischen Umbaus ist das wirklich Neue des Entwurfs.

Das gilt auch für einen arglos wirkenden Satz auf Seite 35: „Leistungen, die medizinisch notwendig sind und deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist, müssen von der Solidargemeinschaft übernommen werden.“ Er markiert eine Entscheidung in einem Streit über Homöopathie.

Noch auf dem Bundesparteitag 2019 konnte eine Schlacht zwischen Anhänger:innen und Kritiker:innen der Kügelchen nur knapp verhindert werden. Das Grundsatzprogramm zieht nun, ohne das Wort „Homöopathie“ zu erwähnen, eine klare Linie: Nur was wissenschaftlich überprüfbar nutzt, soll die Krankenkasse bezahlen.

Ansonsten sind die Grünen aber keine Partei mehr, die sich öffentlich fetzt. Sie seien bemerkenswert diszipliniert, sagte ein führender CDU-Mann kürzlich fast neidisch. Dissens ist eher die Ausnahme, Konfliktvermeidung grüne Tugend. Zum Beispiel die Verteilungsgerechtigkeit: Steuern aus „Kapital- und Gewinneinkommen und aus großen Vermögen“ müssen erhöht werden, heißt es recht allgemein. Kein Wort zu Erbschaft- oder Vermögensteuer, kein Wort über das Volumen.

Die CDU wurde am Freitag 75 Jahre alt. Die Grünen haben ihr einen Präsentkorb ins Konrad-Adenauer-Haus geschickt. Darin lagen laut Habeck Ingwertee und Rhabarberschorle. Bei den Jamaika-Verhandlungen hätte die Union den Genuss dieser Getränke bei den Grünen „abgekupfert“. Das zeige, wie erfolgreich man „seinen Stil durchsetzen“ könne. Grüner Lifestyle für Schwarz-Grün? In dem Präsentkorb war auch der Grundsatzprogrammentwurf. Auf die CDU dürfte er nicht abschreckend gewirkt haben.

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