Grüne im Bundestag: Die Abgeordnete zum Pferdestehlen
An diesem Dienstag tritt der neue Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die 28-jährige Jamila Schäfer ist für die Grünen dabei.
Genauer gesagt sind es die Mitstreiter der neuen Münchner Bundestagsabgeordneten Jamila Schäfer, die sich am Samstagnachmittag hier eingefunden haben. Im Schützengarten hat Schäfer während des Wahlkampfs immer wieder Veranstaltungen abgehalten. Er liegt einigermaßen zentral, ist von überall im Wahlkreis München-Süd gut erreichbar. Jetzt gilt es, den Menschen Danke zu sagen, die sie im Wahlkampf unterstützt haben, die an den Infoständen gestanden und Plakate geklebt haben, mit ihren Flyern von Haustür zu Haustür gegangen sind. Im Schützenzimmer wird Sekt herumgereicht.
Gleich wird Schäfer die kanaldeckelgroße Torte mit Sonnenblumenmotiv anschneiden. Vorher spricht sie aber noch zu ihren Leuten. Von der Möglichkeit, jetzt in Berlin einen echten Aufbruch hinzubekommen, von den Biotopen an der Isar, vom Zusammenhalt in der Stadt, dem Wohnungsproblem – und, klar, von der gemeinsamen Leistung in diesem Wahlkampf. „Und dann“, sagt Schäfer, „haben wir auch das letzte Ziel noch erreicht: dieses Direktmandat zu holen.“ Riesenapplaus. Bis irgendeiner in den Saal ruft: „Jetzt schaut mal, dass unsere Abgeordnete ein Glas bekommt, damit wir anstoßen können.“ Über den Türen hängen Hirschgeweihe. Ein Baby schreit.
Es ist das erste Mal, dass Schäfer an diesem Samstag als Abgeordnete Münchner Boden betreten hat, den Boden des Wahlkreises 219, auf den gerade alle mit Staunen blicken. Am Morgen ist sie mit dem Zug aus Berlin angereist, tags darauf geht es schon wieder zurück. An diesem Dienstag tritt der neue Bundestag zum ersten Mal zusammen. Außerdem wird die stellvertretende Grünen-Chefin bei den Koalitionsverhandlungen erwartet.
Politische Farbenlehre in München
Gerade mal 28 Jahre alt ist Jamila Schäfer und schon eine historische Figur: Bei der Bundestagswahl hat sie aus dem Stand nicht nur den Einzug in das Parlament geschafft – das war auf Platz 7 der Landesliste kein Kunststück –, sondern auch als einzige Kandidatin der CSU ein Direktmandat abgeluchst. In früheren Wahlen war das der SPD vereinzelt gelungen, den Grünen noch nie. Ob Petra Kelly, Claudia Roth oder Anton Hofreiter – bayerische Grüne sind bislang ausschließlich über die Liste in den Bundestag gekommen. „Wir haben gemeinsam Geschichte geschrieben“, ruft Schäfer ihren Unterstützern deshalb auch zu.
Das Nachsehen hatte diesmal Mandatsinhaber Michael Kuffer, ein Christsozialer eher von der Abteilung Holzhammer. Da bei der CSU niemand über die Liste in den Bundestag kam, wird Kuffer künftig wieder ausschließlich als Rechtsanwalt sein Geld verdienen. 27,5 Prozent der Stimmen holte Schäfer im Wahlkreis München-Süd, lag 0,7 Prozentpunkte vor Kuffer. In absoluten Zahlen sind das 1.197 Stimmen Abstand. Es geht freilich auch knapper: Im Münchner Westen fehlten Schäfers Parteifreund Dieter Janecek nur 137 Stimmen, um das Direktmandat zu ergattern.
Überhaupt ist die politische Farbenlehre hier in München etwas komplizierter, der Schein einer kleinen grünen Hochburg, umgeben von schwarzem Feindesland, trügt: So hat die CSU zwar drei der vier Münchner Direktmandate gewonnen. Bei den Zweitstimmen liegt die Partei jedoch mit nur noch 23,8 Prozent klar hinter den Grünen, die auf 26,1 Prozent kamen – ein Plus von 8,8 Prozentpunkten. Dazu kommt, dass alle Wahlkreise so zugeschnitten sind, dass sie sehr unterschiedliche Stadtviertel umfassen. In den Innenstadtbezirken holten die Grünen teilweise weit über 30 Prozent, während es Richtung Stadtrand schwärzer wurde. Aber selbst in ihrem eigenen Bezirk, Hadern, im äußersten Süden gelegen und traditionell schwarz, konnte Schäfer die Mehrheit holen.
Jamila Schäfer, stellvertretende Vorsitzende, Bündnis 90/Die Grünen
Geboren wird Jamila Schäfer 1993. Es ist der 30. April, Walpurgisnacht. US-Präsident Bill Clinton ist gerade 100 Tage im Amt, in Hamburg sticht an diesem Tag ein psychisch Kranker der Tennisspielerin Monica Seles mit einem Messer in den Rücken; und zwei Wochen später fusionieren die aus dem Bundestag geflogenen Grünen auf einem Parteitag in Leipzig mit dem Bündnis 90. Helmut Kohl ist noch Bundeskanzler, aber dass im Kanzleramt tatsächlich auch jemand anderes als Angela Merkel sitzen kann, werden für Schäfer bis heute Kindheitserinnerungen bleiben.
Zweitklässlerin schleppt Mutter zu Demo
Nach dem, was sie so erzählt, während sie auf die Ankunft ihrer Unterstützer wartet, erwachte das politische Interesse bei Jamila Schäfer schon sehr früh. Ihre Eltern, eine Physiotherapeutin und ein Informatiker, waren zwar selbst nicht politisch engagiert, bemühten sich allerdings, die kritischen Fragen ihrer Tochter zu beantworten. Und davon gab es viele. Etwa nach dem Besuch einer Ausstellung über Ernährung. „Da war ich noch nicht mal in der Schule und habe gesehen, dass Kinder, die so alt waren wie ich, auf einer Kakaoplantage arbeiten mussten.“ Auch Bilder von Brandrodungen im Amazonasgebiet oder von deutschen Schlachthöfen beeindruckten sie damals sehr. „Das war ein ganz emotionales Erlebnis aus meiner Kindheit, das ich noch total präsent habe.“
Schäfer wächst in Großhadern auf, einem dörflich geprägten Stadtteil; im übrigen München kennt man seinen Namen in erster Linie als Synonym für das dortige Klinikum. Als Zweitklässlerin schleppt sie ihre Mutter zu einer Demo gegen die Fällung von Bäumen in der Nachbarschaft. „Schon seit ich denken kann“, schreibt Schäfer in ihrer Vita auf der eigenen Homepage, „hat es mich sehr beschäftigt, wieso die Menschheit es nicht schafft, Reichtum gerecht zu verteilen und Tiere und Umwelt besser zu behandeln.“ Oder wie sie es auch oft formuliert: „Ich habe mich immer gefragt, warum die Erwachsenen eigentlich so doof sind.“
Und immer wieder fällt der Name von CSU-Mann Peter Gauweiler, der wie sie aus einer alteingesessenen Großhaderner Familie stammt und das Direktmandat in München-Süd viermal gewonnen hat. Von dem habe sie sich schon als Grundschülerin nicht vertreten gefühlt.
Ach, und dann war da natürlich noch die Geschichte mit Pascha. Nein, der Name stamme nicht von ihr, betont Schäfer. Als Jugendliche lernte Schäfer Reiten und Voltigieren. Pascha war eines der Pferde, auf dem sie voltigiert hat. Doch dann zog er sich eine Fußverletzung zu, und der Reiterhof wollte das Pferd zum Schlachter geben. Da entführte sie Pascha mithilfe eines ehemaligen Reitlehrers kurzerhand über Nacht und stellte ihn bei einem Bauernhof unter. Mittlerweile verbringt Pascha seinen Lebensabend auf einem Hof in Starnberg, eine von Schäfer organisierte Versorgungsgemeinschaft kümmert sich um das alte Tier.
Noch kein eigenes Büro in Berlin
Was folgt, sind Schritte einer steilen Politkarriere, von der Klassensprecherin zur stellvertretenden Parteichefin und schließlich Bundestagsabgeordneten in kaum 15 Jahren: Erste Kontakte zur Grünen Jugend gab es beim Bildungsstreik in den nuller Jahren. Schäfers Jahrgang war der erste, der seinerzeit in Bayern von G8, dem achtjährigen Gymnasium, betroffen war. Mit 20 wird sie Sprecherin der Grünen Jugend in München, mit 22 deren Bundessprecherin. Als nach der Bundestagswahl 2017 in der Grünen-Fraktion kein einziger Abgeordneter unter 30 Jahren sitzt, will die Jugendorganisation die Verjüngung der Partei mit mehr Nachdruck vorantreiben. Sie beansprucht einen Platz im Bundesvorstand, Schäfer kandidiert – und ist plötzlich Stellvertreterin von Annalena Baerbock und Robert Habeck. Da ist sie noch keine 25. Irgendwo in diese Zeit fällt auch noch ein Studium in Frankfurt. Philosophie und Soziologie. Nur die Bachelor-Arbeit fehlt noch. Die will sie nächstes Jahr in der parlamentarischen Sommerpause nachholen.
Zuvor gibt es noch ein paar andere Aufgaben zu erledigen. Ziemlich hin- und hergeworfen fühle sie sich gerade, erzählt Schäfer. Auf der einen Seite verläuft sie sich noch manchmal im Reichstagsgebäude, hat noch kein eigenes Büro und muss zu Einführungsveranstaltungen im Bundestag, in denen es beispielsweise um die Beantragung von E-Mail-Zugängen von Abgeordneten geht. Auf der anderen Seite ist sie Teil des Verhandlungsteams der Grünen und soll gerade eine Regierung auf die Beine stellen. In den Koalitionsgesprächen sitzt sie in der Verhandlungsgruppe für die Europapolitik.
Den Politikerinnensprech hat die Grüne, die in der linken Hemisphäre der Partei zu verordnen ist, dabei schon gut drauf, ihr entfleucht nichts Unvorsichtiges, Spontanes, Überraschendes. Natürlich will sie auch die verbreitete Kritik, die Grünen hätten schon in den Sondierungsgesprächen zu viele Zugeständnisse gemacht, nicht gelten lassen. „Wir haben schon wirklich viele gute Sachen erreicht“, sagt Schäfer. „Und damit haben wir markiert: Wir machen jetzt Aufbruch.“ Als Beispiele nennt sie den Kohleausstieg bis 2030, den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, den massiven Ausbau der Erneuerbaren, die Solarpflicht … „Natürlich hat’s mich auch geärgert, dass wir das Tempolimit nicht hinbekommen haben.“ Sie kann der Kritik aber auch etwas Positives abgewinnen. Die Debatte erhöhe nun ja den Druck, in den Koalitionsverhandlungen noch mehr rauszuholen.
In der Parteiarbeit will sie sich jedoch schon bald etwas zurücknehmen. Wenn im Januar der Bundesvorstand neu gewählt wird, wird Schäfer nicht mehr kandidieren, um mehr Zeit für ihren Wahlkreis zu haben. Dann wird man sie im Münchner Süden wieder häufiger sehen. Sie wohnt zwar mittlerweile mit ihrem Freund in Berlin-Weißensee, ihr Erstwohnsitz ist allerdings immer noch hier im Wahlkreis: daheim bei den Eltern.
Eine Frage bringt Schäfer am Schluss doch noch ins Stocken. Was an ihr denn so ganz untypisch sei für eine Grüne? Sie grübelt, klappert mal schnell ein paar Klischees ab: Sie esse schon gern Müsli, habe Birkenstock-Schuhe, und Vegetarierin sei sie auch. Dann schaut sie sich um. Aber immerhin: Sie mache Parteiveranstaltungen in einem Schützenlokal. Ist doch was.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs