Großeltern gegen Jugendamt: Die Familie muss weg
Nirgends werden so viele Kinder in Heimen und Pflegefamilien untergebracht wie in Bremen. Familie Orlowski demonstriert gegen die Inobhutnahme ihres Enkels vor dem Jugendamt.
BREMEN taz | Am Sonntag sind die Orlowskis noch mal auf’m Deich spazieren gegangen, schön durchpusten lassen, ist ja vom Haus in Cuxhaven nur einen Steinwurf rüber. Montags haben die Ruheständler dafür keinen Kopf. Montags haben sie zu tun, „das ist ein Arbeitseinsatz“, sagt Sabine Orlowski.
„Ein Arbeitseinsatz für unseren Enkel.“ Christian heißt der, bald zehn Monate ist er jung. Anfangs hat er hier gewohnt. Wie er aussieht, jetzt, das wissen sie schon gar nicht mehr.
Der Arbeitseinsatz beginnt schon früh am Morgen: In der Wohnküche schaut Sabine Orlowski mit ihrem Mann Rüdiger noch mal die Rede durch, auf der Sitzecke unter den zwei großen Rahmen mit Kinderfotos. Dann checken sie die E-Mails. Sie telefonieren, um die Mitstreiter bei der Stange zu halten.
Sie packen das Megafon in den Kofferraum, die Transparente, die Plakate auch und die Flugblätter, und dann auf, auf!, jetzt müssen sie sich schon sputen. Sie wollen ja pünktlich sein, in Bremen, zum Demonstrieren.
Jeden Montag geht das jetzt so, seit einem Monat, und jedes Mal führt die Strecke vom Sitz der Sozialsenatorin zum Rathaus, wo dann um 17.30 Uhr Schluss ist. Mit dem Wetter hatten sie bisher immer Glück. Auf jeden Fall starten sie immer vorm Jugendamt, am zugigen Rembertiring.
Da stehn sie dann im Straßenmief, zusammen mit einer Handvoll Leidensgenossen, mit Nachbarn, Freunden und alten Kollegen, dicht an die Hauswand quetschen sie sich, damit bloß ja die Radler vorbeirauschen können, die mit wütendem Pling! freie Fahrt einfordern. Sie stehen dort, bilden ein Spalier, damit der Eingang frei bleibt.
Neulich hatte jemand ’ne Trommel dabei. Und sie werden auch heute wieder da sein, „selbstverständlich!“, versichert Rüdiger Orlowski. „Da müssten die mich schon wegholen für.“
Das ist nur halb ein Witz. Denn: Beim Jugendamt sind sie genervt von den Orlowskis, das weiß er, und haben sich beim Stadtamt beschwert, man könne ja nicht mehr arbeiten, der Amtsfriede sei gestört, wenn die da am Montagnachmittag vor der Tür ihre Schilder hochhalten, die pensionierte Bio- und Mathe-Lehrerin Flyer verteilt und der pensionierte Sport- und Deutsch-Lehrer durchs Megafon seine Empörung kundtut, seine Empörung und seinen Zorn, und dabei manchmal sogar den Verkehrslärm übertönt.
Die Orlowskis sollen das lassen, findet man beim Jugendamt. Die sollen da weg. Die Familie stört. Aber die Orlowskis sind schon am richtigen Ort. Denn sie demonstrieren ja gegen das Jugendamt. Das hat ihnen den Enkel geklaut, sagen die Orlowskis. Ihnen, und vor allem ihrem Sohn Florian das Kind, den Sohn Christian.
Geklaut, naja – also weggenommen auf jeden Fall. Das kann auch das Amt nicht bestreiten. Tatsächlich steigt die Zahl der Inobhutnahmen in ganz Deutschland. Und in Bremen, wo der Spardruck einst den Tod des Kindes Kevin mitverursacht hatte, ist das Pendel längst auf der Gegenseite angekommen.
Schon kurz nach Amtsantritt hatte Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) die Landesregierung dafür gefeiert, dass sie „80 Prozent mehr für Inobhutnahmen“ ausgebe. Im vergangenen April war ihr wichtig klarzustellen, dass keine andere Stadt so viele Kinder in Heimen und Pflegefamilien unterbringt. Auch wenn sie noch darauf hinweist, dass die Inobhutnahme immer das letzte Mittel sein muss – im Jugendamt liest man die Zahl längst, wie eine Produktivitätsziffer.
Sehr schön belegt das ein Posting ausgerechnet des Bürgerbeauftragten des Amtes für Soziale Dienste: An den soll man sich wenden, wenn man Probleme hat, mit den Maßnahmen der Behörde. Auf Facebook hat er eine Nachricht über die rasante Steigerung der jugendamtlichen Gefährdungseinschätzungen eingestellt. Und er hat sie kommentiert. „Wow, sind wir fleißig!“, schreibt er. Sehr kurz, sehr knackig.
Und sehr prägnant.
„Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen“, so hat das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich noch einmal klargestellt, „muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.“
Da muss bereits ein Schaden eingetreten sein, „oder eine Gefahr in einem solchen Maße bestehen, dass sich eine erhebliche Schädigung mit Sicherheit voraussehen lässt“.
Nichts davon lässt sich auch nur ansatzweise im Fall Orlowski beobachten. „Es gibt hier keinerlei konkrete Vorwürfe, die den Eingriff begründen könnten“, bestätigt Orlowskis Fachbeistand, Klaus-Uwe Kirchhoff, ein freiberuflicher Sozialarbeiter, der in ganz Deutschland Betroffene von Kindswegnahmen unterstützt.
„Das ist schon ein Skandal.“ Zumal, weil sich beobachten lässt, wie das Amt versucht, Gründe nachträglich zu konstruieren: Es interpretiert das Verhalten – nicht konstruktiv, latent aggressiv, unkooperativ und sogar „kompetenzanzweifelnd“. Es belehrt den empörten Vater, dass „die Sicherung des Kindeswohls nicht seine Aufgabe“ sei. Und: Es bezichtigt. Da wird einfach mal so vermutet, der Kindsvater habe seinen Sohn entführen wollen, „immerhin eine schwere Straftat“, sagt Anwalt Thomas Saschenbrecker.
„Einfach angedichtet.“ Konkrete Verdachtsmomente, auch nur Hinweise – Fehlanzeige. Hätte das Amt sie, müsste es ja die Staatsanwaltschaft einschalten. Aber einfach in die Akte schreiben, das kostet ja nix.
Und von dort wandert der Inhalt, er verwandelt sich fast ganz ungebrochen durch Zeugenaussagen und unbehelligt von Beweismitteln in die Form richterlicher Beschlüsse: Auch um diesen Mangel der Verfahren zu heilen, dass hier Behörde und Rechtsprechung so eng und kontinuierlich miteinander zusammenwirken wie nirgends sonst, hat man im Familienrecht die Möglichkeit geschaffen, vom Amtsgericht zum Bundesverfassungsgericht zu springen. „Wir werden wohl direkt nach Karlsruhe ziehen müssen“, kündigt Anwalt Saschenbrecker an.
Was bleibt ihm auch übrig. Im Amt, da schreiben sie die Orlowskis einfach weiter mies, die Großeltern und den jungen Papa. Dass der „an einer öffentlichen Kundgebung seiner Situation interessiert“ sei, findet die Sachbearbeiterin total unangebracht. „Für mich“, schreibt sie gallig ans Amtsgericht, „kommt daher eine Rückführung in den väterlichen Haushalt und auch in den der Großeltern (die die Kundgebung offiziell angemeldet haben: Sabine Orlowski – Großmutter des Kindes) […] nicht in Frage.“ Wer demonstriert, soll kein Kind haben. Das Argument scheint auch der Familienrichterin schlüssig.
Aggressiv? Massiv? Also, wenn das eine Rolle spielen würde: Dieser junge Mann mit der hohen Stirn und den rötlichen Haaren wirkt im Gespräch manchmal fast lethargisch, eher zu sanft.
Wenn Florian Orlowski nach Hause kommt, von der Arbeit, abends, in die kleine Wohnung in der Bremer Neustadt, dann herrscht da Stille. Da schreit kein Baby. Da wartet nur die Post, stapelweise. Briefe vom Anwalt, Briefe vom Fachbeistand, das sind noch die guten, dann vom Familiengericht und der ganze Behördenkram, „es ist schon gut zu tun“, sagt er.
Und wenn die Post erledigt ist, dann sitzt man da und macht sich so seine Gedanken und sucht nach Gründen, nach Motiven. Und natürlich denkt man dann irgendwann daran, dass das Ganze ja auch eine materielle Seite hat: In Bremen sind die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung von 70,5 Millionen Euro im Jahr 2006 auf rund 161,8 Millionen im Jahr 2013 gestiegen, doch, man kann sagen: Das ist ein wirtschaftlich relevanter Sektor.
Auf dem ist im Auftrag der Sozialsenatorin die Pflegekinder in Bremen GmbH als Monopolist tätig. Sie verwaltet die Auswahl und Vermittlung der Pflegeeltern und der aktuell 2.679 Kindern und Jugendlichen im System. Die Verwaltungsarbeit kostet richtig Geld: Pro Fall werden etwas über 60.000 Euro jährlich aufgewendet. Eine Pflegefamilie bekommt maximal 15.840 Euro jährlich – also Anerkennung plus Versorgungspauschale. Macht eine Differenz von 44.000 Euro pro Fall.
Über 44.000 Euro mal 2.679 Fälle lässt sich schon eine ganze Weile grübeln.
Und manchmal macht man sich auch Vorwürfe. Denn natürlich, er war’s ja selbst, der sich mit seiner Freundin, der Mutter des Kindes, ans Amt gewandt hatte: Derselbe Florian Orlowski, dem nun per Gerichtsbeschluss aufgrund allein der Aussage der Sachbearbeiterin unterstellt wird, er lehne Hilfeangebote des Jugendamtes ab, der ist mit ihr zur Beratungsstelle West gegangen. Die hat das hilfesuchende Paar einfach nur weggeschickt.
Gesichert ist, dass es dem Kind gut ging, draußen in Cuxhaven, im Haus der Großeltern, die ersten acht Wochen seines Lebens, als sich Florian Orlowski um ihn kümmerte. Das haben ihm sogar die Bremer Amtspersonen bestätigt, als sie per Taxi rausgefahren kamen, um unter Polizeischutz, zwei Streifenwagen, Beamte in voller Montur, den Säugling rauszuholen, ihn ins Heim zu stecken, von wo aus er schließlich in eine Pflegefamilie gekommen ist.
Wohlauf sei das Baby gewesen, Datum, Ort und zwei Unterschriften. Und dass der junge Mann ein begeisterter Papa sein kann, das sagen alle, die ihm dabei zugesehen haben: wie er mit dem Kleinen zugange war, ihn wickelte, ihn badete, Spaziergänge machte, das Fläschchen, und in der Nacht, wenn die Blähungen einsetzen, da muss ja auch jemand wach sein, das Baby aus dem Stubenwagen heben, es rumtragen und ihm zureden: Wird ja alles gut, Krissi, wird schon wieder gut.
Wird nicht gut. Nicht mehr. Und noch nicht: Mit der Liebe ist es aus, die Beziehung zwischen Kindsmutter und -vater hat den Beistand durchs Amt nicht verkraftet. Während sie begleiteten Umgang hat, bekommt er seinen Sohn seit Monaten nicht zu sehen, „wir kriegen noch nicht mal Fotos von Krissi“, sagt Florian Orlowski. Aber die Geschichte hat noch keine Ende.
Rüdiger und Sabine Orlowski packen auch an diesem Montag wieder ihre Demo-Sachen ein. Solange man sie nicht wegsperrt, werden sie weiter vors Jugendamt ziehen. Er wird wieder eine Rede halten. Sie wird wieder Flyer verteilen. Es wird wieder keiner rauskommen, auch aus der senatorischen Behörde wird sich niemand blicken lassen und aus dem Rathaus nicht. Wenn’s schön ist, ergeben sich vielleicht noch Gespräche, am Markt. Und am Abend packen sie ihre Sachen ins Auto und fahren nach Hause, und so ist es jetzt.
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