Großbritannien vor der Kommunalwahl: Gekommen, um zu verändern
Thurrock ist Brexit-Terrain, Hochburg der Rechten. Der Bürgermeister stammt aus Nigeria. Diese Woche geht er erneut für die Konservativen ins Rennen.
„Herzlich willkommen!“, sagt der Mann im eleganten dunkelblauen Anzug und streckt die Hand entgegen. Um seinen Hals hängt eine schwere Ornatkette. An der Bürowand hängt das Bild einer afrikanischen Frau mit langen geflochtenen Haaren, in einem Schrank stehen Sporttrophäen.
Tunde Ojetola heißt der Mann, er ist konservativer Bürgermeister der Gemeinde Thurrock östlich von London und nigerianischer Abstammung. Thurrock war einst eine dieser berüchtigten Gegenden, in denen man in der falschen Ecke auf zornige Neonazis stieß. Die rechtsextreme BNP (British National Party) verbuchte hier Erfolge auf kommunaler Ebene.
Das hat Ironie. Denn genau hier landeten jahrzehntelang Londons Passagierschiffe aus Übersee, darunter auch 1948 die legendäre HMT Empire Windrush (die ehemals reichsdeutsche MV Monte Rosa), an Bord die ersten 492 von später über 100.000 Arbeitsmigranten aus der britischen Karibik, deren schikanöse Behandlung durch die britische Bürokratie heute die konservative Regierung in Bedrängnis bringt.
Verstaubte Ruine
Den alten Hafen Tilbury, der auch Ort der Emigration nach Australien war, nutzen heute nur noch private Kreuzschiffe, der legendäre Bahnhof Tilbury Riverside ist eine verstaubte Ruine.
Alles wich um die 1970er Jahre einem Containerhafen weiter östlich, die einst reiche Gegend verarmte. Der lokale Frust richtete sich auf Zuwanderer: erst die schwarze Bevölkerung, dann Osteuropäer.
2012 wanderten die BNP-Wähler zur Ukip (United Kingdom Independence Party), die das Ende unkontrollierter Immigration versprach. 17 der 49 Sitze im Kreisrat holte Ukip im Brexit-Jahr 2016, und beim Brexit-Referendum gab es 72,3 Prozent für den EU-Austritt.
Aber Thurrock hat ein Geheimnis. Statt sich abgestoßen zu fühlen, kommen erst recht Zuwanderer afrikanischer Abstammung, angezogen von niedrigen Immobilienpreisen. Ihre Anzahl hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Kinder afrikanischer Abstammung sind in den Grundschulen die größte ethnische Minderheit.
Kindheit war diszipliniert und strikt
Im Zug nach Thurrock voller Pendler weiß auf Nachfrage niemand, dass die Gemeinde einen Bürgermeister afrikanischer Abstammung hat. Unter den 49 Kreisräten sind er und eine Frau von Labour die Einzigen mit dunkler Hautfarbe.
Ojetola wurde 1967 in London geboren, als mittleres Kind unter sechs Geschwistern. Schon bald zog er mit seinem Vater in dessen nigerianische Heimat Ilorin. Schule und Universität absolvierte er dort, studierte Politik und Geschichte.
Kommunalwahlen: Wie jedes Jahr finden auch dieses Jahr am ersten Donnerstag im Mai Teilwahlen zu den Kommunalvertretungen in Großbritannien statt. Es werden sämtliche Sitze in London, Birmingham, Manchester, Leeds und Newcastle neu bestimmt, in einigen anderen englischen Regionen ein Drittel der Sitze.
Labour-Chancen: Die Wahlen finden vor allem in Labour-Hochburgen statt. Bei den letzten Wahlen in diesen Wahlkreisen 2014 setzte sich Labour mit 31 Prozent vor den Konservativen mit 29 und Ukip mit 17 Prozent durch. Diesmal ist die Frage, wer die Stimmen der zerfallenen Ukip erntet. In London gewann Labour 2014 mit 43 Prozent vor den Konservativen mit 30. Aktuelle Umfragen in London geben Labour 51 Prozent, den Konservativen 29. Der Durchschnitt der landesweiten Meinungsumfragen unabhängig von den Kommunalwahlen sieht die Konservativen bei 41 Prozent, Labour bei 40.
Seine Kindheit beschreibt er als „diszipliniert und strikt“. 1991 zog er zurück nach London, zu einer seiner Schwestern. Die Arbeitssuche fiel ihm schwer, der Politologe endete als Hamburger-Verkäufer. „Meiner Frau ist das heute äußerst peinlich“, gesteht er. Es ist ihm aber wichtig, das nicht zu verstecken, damit Leute verstünden, dass er ganz unten anfing.
Mit seiner Frau zog er in ein Eigenheim in Purfleet, einem der Bezirke Thurrocks. Eigenbesitz sei ihm wichtig, sagt er, „damit man auf eigenen Füßen stehen kann“, einer der Gründe, weshalb er auch bei den Konservativen gelandet sei. „Ich bin allerdings ein sozialer Konservativer“, merkt er an.
Durch Zufall bei den Tories
Er befürworte staatliche Hilfe für sozial Benachteiligte, aber nicht als Dauerzustand. Das Brexit-Referendum hingegen bezeichnet er als verheerend. Überhaupt war es Zufall, dass er bei den Tories landete.
„Ich schloss mich nach unserer Ankunft in Purfleet einer kleinen Nachbarschaftsinitiative an, wo ich das einzige schwarze Gesicht war, und legte mich dort voll ins Zeug.“ Bei einer religiösen Veranstaltung, Ojetola ist gläubiger Christ, schlug ihm jemand vor, den Konservativen beizutreten.
„Die Leute betrachteten mich mit Zurückhaltung“, erinnert sich Ojetola an seine ersten kommunalen Wahlkämpfe. „Ich fragte die Leute einfach, wie es denn mit ihrer Müllabfuhr steht, oder mit ihrer Schule.“ So wurde er 2004 Bezirksrat.
Er machte sich einen Namen als Querdenker. „Wenn ich einem Treffen beiwohne, fühle ich mich verpflichtet, etwas zu sagen – unauffällig dasitzen, das gibt es mit mir nicht.“ Nicht immer behandelten ihn die eigenen Parteifreunde ebenbürtig. Einer schlug ihm vor, Kurse für ethische Minderheiten zu belegen. „Ich war vollkommen verdutzt und fragte ihn, warum keine normalen Kurse, worauf er keine Antwort hatte.“
Repräsentative Funktion
2010 wird Ojetola stellvertretender Bürgermeister, im Mai 2017 Bürgermeister. Das Amt hat hauptsächlich repräsentative Funktion, doch gerade das ist wichtig in einer Region, wo manche Migranten als nicht dazugehörend gelten, glaubt Ojetola.
Das erlebt er vor dem Brexit-Referendum auch persönlich. „Ein Mann erzählte mir, der Immigrationsfluss müsse enden. Sonst wandere er nach Spanien aus. Dann werden Sie ja selber Einwanderer, gab ich ihm zur Antwort“, sagt Ojetola und lacht.
Doch auch für solche Menschen fordert er Unterstützung. „Viele hier begnügen sich seit ihrem ersten Job mit einer Art Fatalismus und schauen nicht mehr weiter nach oben.“
Tunde Ojetola
In seiner eigenen Art sorgt Ojetola für Erstaunliches. So wird er Vorstandsmitglied einer Schule. „Als ich begann, hatten sie keinerlei Ambitionen“, berichtet er.
Beste Schule der Region
„Ich sorgte für ein vollkommenes Umdenken: nicht nur Friseuse werden wollen, sondern einen Friseurladen besitzen. Nicht nur Elektriker werden, sondern eine Elektrikerfirma leiten.“ Die Schule, mit über 50 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund wird die beste in der Region.
Inzwischen gibt es keine Ukip mehr in Thurrock. Seit die Partei ins Chaos stürzte, traten in Thurrock alle Abgeordneten aus und bildeten die Fraktion „Thurrock Independents“.
Ihre Wiederwahl in gleicher Stärke diese Woche ist unwahrscheinlich. Stattdessen schwört der Bürgermeister nigerianischer Abstammung Thurrock auf eine Vision ein, wie sie sich nur Migranten erträumen können.
Nach den Wahlen endet Ojetolas Amtszeit. Er kandidiert aber wieder für den Kreisrat – als Konservativer. Und an diesem Abend ist Ojetola wieder einmal der Letzte, der das Rathaus verlässt. Den Weg zum Bahnhof säumen weiße Jugendliche in Kapuzenpullis, orientierungslos und etwas bedrohlich.
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