Griechenland und die Flüchtlinge: „Keine Lösung ohne die Türkei“
Nach dem EU-Sondergipfel vom Sonntag verwahrt sich Athen gegen den Vorwurf, es tue zu wenig in der Flüchtlingskrise.
Aus griechischer Sicht gibt es noch einen Grund: dass die Türkei sich weigert, ihr „Rücknahmeabkommen“ mit der Europäischen Union umzusetzen. Im Dezember 2013 hatte der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğandiesen Vertrag mit Brüssel unterzeichnet und dadurch die Verpflichtung übernommen, alle Flüchtlinge wieder aufzunehmen, die über türkisches Territorium in die EU gelangen.
Von einem „Meilenstein“ war damals die Rede. Im Gegenzug stellte die EU-Kommission Gespräche über eine Lockerung der Visumspflicht für türkische Staatsangehörige in Aussicht. Da diese Gespräche noch keine Ergebnisse gebracht haben, weigert sich die Türkei, ihre Verpflichtungen von 2013 zu erfüllen. Hinter vorgehaltener Hand heißt es oft in Athen, Ankara benutze die Flüchtlinge als Druckmittel in Richtung Brüssel.
Nicht zuletzt deshalb erinnerte Regierungschef Alexis Tsipras beim jüngsten EU-Treffen zur Flüchtlingskrise an die übliche Floskel, es gebe „keine Lösung ohne die Türkei“. Das heißt jedoch nicht, dass der Linkspremier irgendeiner Lösung unter Berücksichtigung der Türkei zustimmt.
Insbesondere der Vorschlag, die griechische Küstenwache sollte gemeinsam mit der türkischen in der Ägäis patrouillieren, stößt in Athen auf keine Gegenliebe. Offen zeigt man sich dagegen für den Einsatz einer europäischen Küstenwache unter Beteiligung der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Unterstützung für das Projekt signalisierte auch Frankreichs Präsident François Hollande bei seinem jüngsten Besuch in Athen.
Juncker mit strenger Miene
Nach dem Treffen zur Flüchtlingskrise am vergangenen Sonntag in Brüssel zeigte sich Tsipras zufrieden, weil es ihm angeblich gelungen sei, „unlogische Ansätze“ zur Krisenbewältigung zurückzuweisen. Das betrifft etwa die Forderung, in Athen ein Lager für bis zu 50.000 Flüchtlinge zu errichten. Allerdings hat sich Griechenland schon längst verpflichtet, im ganzen Land mehrere „Hotspots“ zu eröffnen, in denen ankommende Flüchtlinge identifiziert werden.
Mitte Oktober wurde auf der Insel Lesbos der erste Hotspot auf griechischem Boden eingerichtet, der allerdings noch nicht voll funktionsfähig ist. Bis Ende 2015 sollte Griechenland in der Lage sein, 30.000 Flüchtlinge in Hotspots unterzubringen, mahnte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nochmals mit strenger Miene am Sonntagabend.
Für griechische Medien war das Ergebnis des EU-Treffens zur Flüchtlingskrise ohnehin programmiert: Deutschland habe (wieder einmal) seine Position durchgesetzt, berichtete der führende Athener TV-Sender Mega. Die Äußerung des kroatischen Ministerpräsidenten Zoran Milanović, es sei unverständlich, dass Griechenland und die Türkei ihre Grenze nicht besser kontrollierten, kommentierte der Sender mit den Worten: Manche Länder verstehen nicht, was los ist in der Ägäis. Oder sie tun einfach so, als würden sie es nicht verstehen.
Noch drastischer fällt die Kritik am nationalkonservativen ungarischen Premier Viktor Orbán aus, der auf EU-Gipfeln immer wieder behauptet, Griechenland sei nicht in der Lage, seine Grenzen zu sichern und zu verteidigen. Von „Provokationen“ aus Budapest berichten die griechischen Medien – und fragen: Will uns Orbán im Ernst vorschlagen, dass wir auf Flüchtlinge schießen?
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