Grenzstadt Wowtschansk: „Wir werden Denkmäler des Kriegs“
Wowtschansk wird täglich beschossen. Die Anwohner müssen sich nicht nur vor Granaten, sondern auch vor dem kalten Winter in Schutz bringen.
Mykola steht vor einem von mehreren geöffneten Lebensmittelgeschäften und wartet auf Kunden. Er arbeitet als Taxifahrer und verkauft nebenbei Benzin in 5-Liter-Flaschen, in der Stadt ein knappes Gut. „Meistens kommen Leute, die die Stadt verlassen wollen. Gerade war ein Mann da, der will seine Frau und sein Kind von hier nach Charkiw bringen. Das ist verständlich, es hat keinen Sinn, hierzubleiben“, sagt Mykola und blickt sich immer wieder um. „Wenn sie wiederkommen, dann wird es in der Stadt kein Leben mehr geben“, sagt der Rentner und weist auf das Ende der Straße, wo schon die Grenze zu Russland beginnt. Seufzend fügt er hinzu: „Ein Leben gibt es hier schon jetzt nicht.“
Wowtschansk wurde bereits in den ersten Stunden nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 von russischen Truppen besetzt. Die Stadt liegt nur fünf Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, im Nordosten der Region Charkiw. Vor dem großen Krieg, wie sie ihn hier nennen, lebten etwa 12.000 Menschen hier, die Autofahrt nach Charkiw dauerte anderthalb Stunden. Heute ist nur noch ein Drittel der Bevölkerung in der Stadt. Bis zur „Gebietshauptstadt“ Charkiw braucht man nun auf nicht asphaltierten Straßen aus Sand und Stein vier Stunden.
Als Reaktionen auf einen Gegenangriff der ukrainischen Armee sprengten die russischen Invasoren die Brücken hinter ihnen in die Luft. Jetzt sind die Einwohner von Wowtschansk von den Hauptverkehrsadern abgeschnitten, weil es für die Behörden keine Priorität hat, die zerstörten Übergänge wiederherzustellen. Laut der Straßenmeisterei würde es etwa ein Jahr dauern und 400 Millionen Hriwna (umgerechnet 10 Millionen Euro) kosten, die Brücke zu erneuern. Wer jetzt wirklich mit Lasten auf die andere Seite muss, nimmt ein Boot. Wenn es sehr kalt ist und das Wasser gefriert, schleppen die Menschen Taschen und Kisten über das Eis.
Erinnerungen an die Folterkammer
Obwohl Wowtschansk bereits im September befreit wurde, ist auf einigen Straßen immer noch kaputtes schweres Geräte zu sehen. Es scheint, als ob es absichtlich nicht weggeräumt wurde, um daran zu erinnern, was die Stadt unter russischer Besatzung durchgemacht hat.
Wie in vielen anderen besetzten Städten gab es laut Angaben der Polizei des Gebietes Charkiw auch in Wowtschansk eine Folterkammer, in der Zivilisten misshandelt wurden. Das Foltergefängnis befand sich auf dem Gelände einer Fabrik mitten im Zentrum der Kleinstadt. „Die Schreie gefolterter Menschen waren wahrscheinlich in der ganzen Stadt zu hören“, sagt ein Bewohner. Hier saßen sowohl Männer als auch Frauen ein. Bevorzugte Opfer waren ehemalige Teilnehmer der antiterroristischen Operation im Donbass, Kämpfer der Territorialverteidigung und proukrainische Aktivisten.
Nach Angaben des Leiters der Nationalen Polizei, Ihor Klimenko, wurden neben Bürgern der Ukraine auch Ausländer in dieses russische Gefängnis in Wowtschansk gebracht. So waren hier sieben Bürger Sri Lankas illegal inhaftiert, Medizinstudenten aus der Nachbarstadt Kupjansk, die ebenfalls besetzt worden war. Einem der Studenten wurden die Zehennägel mit einer Zange ausgerissen.
„Heute ist das größte Problem unserer Gemeinde der tägliche Beschuss, die tägliche Zerstörung und der tägliche Verlust von Menschenleben“, beschreibt der Bürgermeister von Wowtschansk Tamas Gambaraschwili die Lage. Er hat dieses Amt erst seit ein paar Monaten. Ihm zufolge setzten die Russen alle möglichen Waffen ein, aber meistens Minen oder Raketenartillerie. „Ihr Beschuss folgt keiner Logik, sie zielen auf absolut alle Gebäude – von Wohngebäuden über Geschäfte bis hin zu Schulen. Dies ist echter Terror gegen die lokale Bevölkerung“, sagt der Bürgermeister.
In den Hochhäusern leben keine Menschen mehr, sie sind gerade jetzt im Winter nicht mehr bewohnbar. Örtliche Betriebe schaffen es kaum, Fenster, die von Druckwellen zerstört wurden, mit Folie und Tafeln abzudichten. Nach jedem Beschuss müssen Ingenieure defekte Stromleitungen wiederherstellen.
Die Verfügbarkeit von Elektrizität ist für die Menschen hier lebenswichtig. Wenn es keinen Strom gibt, haben sie keine Möglichkeit, sich warm zu halten – denn fast unmittelbar nach ihrem Rückzug zerstörten die Russen die Leitung, die die Stadt normalerweise mit Gas versorgt. „Wir können die Leitung nicht instandsetzen, da sie sich auf russischem Territorium befindet. Bis zum Ende des Krieges wird es daher kein Gas in Wowtschansk geben. Wir bitten die Menschen, sich evakuieren zu lassen, zumindest für die Wintermonate“, sagt Bürgermeister Gambaraschwili. Lokale Behörden und Freiwillige versuchen, die Bewohner mit Feuerholz, Öfen und warmer Kleidung zu versorgen. Doch es gibt noch ein weiteres Problem: Hilfsorganisationen reißen sich nicht gerade darum, nach Wowtschansk zu fahren.
Ungeachtet dessen wurden im vergangenen Dezember die erste Bankfiliale mit einem Geldautomaten, eine Apotheke und eine Post wiedereröffnet. „Aber wenn der Beschuss weiter zunimmt, habe ich Angst, dass sie wieder schließen“, sagt GambaraschwiIi. In seinem Büro ist es nur mäßig warm und man will sich gar nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen jetzt in ihren Häusern und Wohnungen leben.
Dass nur ein Ende des Krieges der Stadt wieder ihr normales Leben zurückgeben kann, wissen die Einheimischen nur allzu gut. „Der Sieg ist die einzige Hoffnung. Schließlich wird sich Russland nicht in Luft auflösen, sondern immer auf der anderen Seite der Grenze sein. Erst wenn der Bastard Putin zurückgeschlagen ist, können wir wieder normal leben“, sagt der 54-jährige Serhi, der viel älter aussieht, als er ist.
Er ist ins Stadtzentrum gekommen, um eine Flasche mit Wasser zu füllen und sich mit Freunden zu treffen. Die Männer stehen unter dem Dach einer Haltestelle, um sich vor dem Schnee zu schützen. Zwei Meter von ihnen entfernt ragt das Endstück einer Rakete aus dem Boden. Doch darauf achtet niemand. Einer der Männer sagt: „Die ist da schon lange hier. Wir haben versucht, sie herauszuziehen, aber die Rakete ist so tief in den Boden eingedrungen, dass das niemand geschafft hat.“
Zwei Bewohner in Haus mit 45 Wohnungen
Auf Außenstehende wirkt es erstaunlich, dass die Stelle nicht markiert oder gesichert ist, aber die Einheimischen wissen natürlich ohnehin Bescheid. „Das wird ein Denkmal für den Krieg“, lacht ein anderer Mann. „Ja, auch wir werden Denkmäler des Krieges sein. Natürlich nur, wenn wir das alles überleben“, sagt Serhi, auf einen Stock gestützt. Ein ironischer Unterton ist nicht zu hören, der Tonfall klingt eher verzweifelt.
Serhi hat sein ganzes Leben in Wowtschansk verbracht. Hier, in seiner Heimatstadt, erlebte er den Beginn der Invasion, die Besatzung und die Befreiung. Jetzt kämpft er jeden Tag ums Überleben. „Vor zwei Tagen bin ich zum ersten Mal unter Beschuss geraten, da drüben, in der Nähe des Geldautomaten, buchstäblich 20 Meter von hier entfernt, wo wir jetzt stehen“, erzählt Serhi, seine Unterlippe beginnt bei der Erinnerung vor Aufregung zu zittern. „Die Kirche wurde getroffen und auch das Dach eines Hauses, ein Mann wurde getötet. Das war das Schrecklichste, was ich je in meinem Leben erlebt habe.“
Er ist einer von zwei Bewohnern, die immer noch in ihrem fünfstöckigen Gebäude leben. Dort gibt es 45 Wohnungen. Aus den Heizungsanlagen in den Häusern wurde Wasser abgelassen, damit die Rohre in der Kälte nicht platzen. Es gibt Strom, wenn kein Beschuss erfolgt und keine Kabel durchtrennt werden. Nur dann kann Serhi Essen kochen und sich irgendwie warm halten. „Ich habe einen kleinen Elektroherd und die Freiwilligen haben mir auch eine Heizdecke und einen kleinen Heizkörper gegeben. Ich ziehe alle Pullover an, verkrieche mich in meinem Zimmer und schalte die Heizung ein – so überlebe ich.“ Plötzlich wird das Gespräch von lauten Explosionsgeräuschen ganz in der Nähe unterbrochen. „Es hat angefangen, versteckt euch!“, kann er zum Abschied gerade noch sagen, bevor er sich humpelnd in Richtung seines Hauses entfernt.
Aus dem Russischen
Barbara Oertel
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!