Grafic Novel „Sibylla“: Die Überbegabte

Unerschrocken visionär erzählt Max Baitinger von den Gedichten des Greifswalder Mädchens Sibylla Schwarz. Die ist 1638 gestorben – mit 17 Jahren.

Auf einer Riesenzunge inmitten eines fragmentierten Monstergesicht steht eine zierliche Frauengestalt, die Hauptfigur des Comics "Sibylla"

Eine Frau Aug in Aug mit dem Tod: Max Baitinger zeigt Sibylla Schwarz in ihrer Dichtung Foto: Baitinger / Reprodukt

Da ist mal eine kühne Setzung: Auf der ersten Seite seiner Graphic-Novel „Sibylla“ zieht Max Baitinger einen Strich. Er lässt diese gebogene fettstiftschwarze Linie von außerhalb ins säuberlich gerahmte Bildkästchen stürzen, das eine angedeutete Küstenlandschaft zeigt. Vom oberen Seitenrand her kommend, vom Jenseits des Buchs her, aus dem Nichts fährt sie wie ein dunkler Blitz quer durch den mintfarbenen Himmel ins zart aquarellierte Meerwasser.

Und wie eine Spiegelung auf kräuselnden Wellen greift Baitinger sie da dann fragmentierender und gebogener wieder auf: „Einen Strich in die Landschaft und behaupten …“, kommentiert der Text dieses erste Panel das eigene Vorgehen, „… das hier sei jetzt Sibylla Schwarz“.

Sibylla Schwarz kennen zwar die wenigsten. Aber das ist eine Wissenslücke, die jeder beklagt, der sie geschlossen hat. Denn ihre Lyrik ist – Hammer. Schwarz ist vielleicht die bedeutendste Dichterin Norddeutschlands. Gelebt hat sie im Zeitalter des Barock, genauer: Während des Dreißigjährigen Kriegs.

Am Dienstag 5. April stellt Baitinger das Buch im Hamburger B-Movie vor, die Woche drauf bei Feinkost Lampe in Hannover. Und vielleicht lässt sich dabei klären, ob nicht der Niedersachse Wilhelm Busch mit seiner „Anleitung zu historischen Porträts“ Pate bei dem spektakulären Anfang gestanden hat.

Max Baitinger: „Sibylla“, Reprodukt, 176 S., 24 Euro

Mit der hatte der Urahn des Bildergeschichten-Erzählens einst humoristisch gezeigt, wie sich der Alte Fritz, also der Preußenkönig Friedrich II., aus Zickzacklinien und eine Napoleon-Karikatur aus U-s, geraden Strichen und Kreissegmenten zusammensetzen lässt.

Diese zeichnerische Reflexion des Zeichnens ist sehr komisch. Und Baitinger nutzt ihren Witz auch weidlich aus, geht aber darüber hinaus. So vermag er eine tiefe Skepsis gegenüber dem eigenen Vorhaben zu artikulieren.

Die begründet ist: Legion sind ja die üblen, meist in Regionalmarketingabsicht erstellten Comic-Biografien, die einen abgestandenen Geniekult in neue Sprechblasen füllen. Zumal das Beethoven- und das Lutherjahr massenhaft solche Mistbildungen in die Regale gespült hatten. In ihrem Gemeinschaftsprojekt „funk.net“ fördern ARD und ZDF den unseligen Trend zum schematischen Illustrieren von Lebensgeschichtsfloskeln jenseits aller Individualität und bar jeden Nachdenkens.

Baitinger hingegen versteht sich als Künstler. Das verdeutlichen seine bisherigen Comics. Insofern ist es glaubwürdig, wenn er im Comic „Sibylla“ eingangs behauptet, wenig beglückt reagiert zu haben, als der dem Andenken dieser Lyrikerin gewidmete Greifswalder Verein an ihn herangetreten war mit dem Wunsch nach einer Sibylla-Schwarz-Graphic-Novel. Zum 400. Geburtstag, 2021.

„Wenig Hoffnung“ habe er den Schwarz-Enthusiasten gemacht, so Baitinger in einem Interview. Zumal er ja auch mit Barock­lyrik nichts anzufangen wisse. Um dann eben doch Feuer zu fangen, gerade weil sich das Leben dieses überbegabten Mädchens – Schwarz ist 1638 gestorben, mit gerade mal 17 Jahren – gar nicht erzählen lässt: Man weiß fast nichts gesichert über sie.

Dokumentiert ist, dass sie, extrem frühreif wie Jahrhunderte später vielleicht Arthur Rimbaud oder Sabine Sicaud, fast 100 Gedichte geschrieben hat, die zwölf Jahre nach ihrem Tod in einer zweibändigen Ausgabe im Druck erschienen sind.

Man weiß, dass sie die jüngste Tochter einer Greifswalder Patrizierfamilie war, und dass ihre Mutter an der Pest starb, als sie neun war. Frieden muss ihr als süße Fiktion erschienen sein: Ihre Heimatstadt war immer wieder umkämpft, erst von kaiserlichen Truppen erobert, dann von schwedischen Truppen befreit. Sie erlebt Plünderungen, Hunger, Seuchen.

Aus Angst vor den Soldaten hat sich der Vater mit ihr aufs Landgut Frätow im Distrikt Karrendorf direkt am Bodden zurückgezogen, gut zehn Kilometer nördlich der Hansestadt. Belastende Einquartierungen gibt es dann auch dort. Irgendwann brennen Gustav Adolfs-Mannen den Weiler nieder.

Spottgedichte über Adels-Dünkel

Diese Nöte und Ereignisse finden sich in Schwarz’ Lyrik wieder. Aber ein realistisches Paradigma ist nicht die Sache des Barock: Sie führt ihre Leser*in­nen in allegorische Landschaften, in denen die Dichterin Götterkollegien „wegen einäscherung ihres Freudenorts Fretow“ beraten lässt. Auch in der Kritik wird Wirklichkeit stets mythologisch überhöht.

Wenn Schwarz ein – unerhörtes – Spottlied „An den unadelichen Adel“ adressiert, fasst sie dessen unerträgliche Hochmut im Bild des Ikarus, der seinen Vater Dädalus übertrumpfen will. Doch während Dädalus mit seinen selbstgebastelten Flügeln in die Freiheit fliegt, stürzt der Jüngling mit den vom Vater fabrizierten ab und „muß auff Erden liegen // Als er wil gen Himmel fliegen“, wie Sibylla Schwarz keck reimt.

Lesung in Hamburg: Di, 5. 4., zusammen mit Aisha Franz und Moritz Wiener, B-Movie, Brigittenstr. 5, 20 Uhr;

Lesung in Hannover: Di, 12. 4., Feinkost Lampe, Eleonorenstr. 18, 20 Uhr

In biografisches Framework, das er spielerisch aufnimmt, hat Baitinger Entsprechungen für dieses visionäre Verfahren montiert. Wo die Dichterin o!, den bittersüßen Tod als nur angedeutete Personifikation anfleht, sie in seinen Rachen aufzunehmen, lässt der Comic sie auf einer Zunge im luftleeren Raum einem nur lose aus Versatzstücken angedeuteten Monsterschlund gegenübertreten.

Die Schrecken des Kriegs, den Wahnsinn seiner religiösen Begründungen fasst Baitinger im Zentrum des Buchs zu einem schwarz-roten Bilderbogen zusammen. Dessen Ästhetik erinnert am ehesten an die präkolumbianischen Fresken Mexikos.

Entstanden ist also ein Kunstwerk ganz für sich. Fensterlos wie eine Monade enthält es die gesamte Welt der Sibylla Schwarz. Um den Comic zu verstehen, wird niemand, der ihn rezipiert, ihr Œuvre lesen müssen. Aber jeder, der es verstanden hat, wird wild darauf sein, endlich mehr von ihrer Lyrik zu kennen.

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