: Gräber ohne Namen
Auf einem besonderen Abschnitt des Friedhofes von Suleimania finden Frauen und Mädchen, die Opfer von Ehrenmorden geworden sind, ihre letzte Ruhe. Doch selbst im Tod stellen ihre Angehörigen ihnen noch nach
Parez Sabir arbeitet als TV- und Radiojournalistin in Suleimania.
Die Totengräber kommen mitten in der Nacht. Heimlich schaufeln sie Gräber und legen die Toten hinein. Tausende von Verstorbenen wurden in den vergangenen Jahren hier, auf dem Saiwanfriedhof von Suleimania, so beerdigt. Immer nachts. Immer heimlich, auf einem Teil des Friedhofes, der durch eine Drahtwand von allen anderen Gräbern getrennt liegt.
Die Grabsteine tragen weder Namen noch Geburts- oder Todesdatum, lediglich eine Nummer ist in die Steine graviert. Selbst jetzt, da sie tot sind, wäre die Nennung der Namen für ihre Angehörigen eine Schande. Wenn sie wüssten, wer wo beerdigt ist, würden sie kommen, die Leichen wieder ausgraben und irgendwo verscharren, die Erinnerung an das Leben der Frauen, Mädchen und Kinder für immer tilgen, als hätten sie niemals gelebt. „Friedhof der Ehrenopfer“ nennen die Bewohner von Suleimania diesen Ort hier, wo die Gemeinde nachts Menschen beerdigt, aber Ehre klingt in diesem Zusammenhang vielmehr wie ein Hohn.
Wie viele Frauen, Mädchen und Kinder im Irak jährlich Opfer von sogenannten Ehrenmorden werden, weiß keiner. Ein Papier der britischen Regierung vom März dieses Jahrs schätzt ihre Zahl auf mehrere Hundert pro Jahr. Die Verbrechen werden meist von einem Ehemann, einem Vater, einem Bruder oder einem anderen Verwandten begangen oder angeordnet, um ein Familienmitglied zu bestrafen, weil es angeblich gegen soziale oder kulturelle Normen verstoßen und dem Ruf der Familie geschadet hat. Das können Freundschaften oder voreheliche Beziehungen sein, die Weigerung, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten, Eheschließungen gegen den Willen der Familie, ein Streben nach Ehescheidung, Ehebruch, selbst Vergewaltigungsopfer werden mit dem Tode bestraft.
Allein auf dem Friedhof der Ehrenopfer von Suleimania in der Autonomen Region Kurdistan liegen derzeit 3.000 Menschen begraben. Sowohl die Bestattungen als auch die Geheimhaltung der Namen, früheren Adressen und weitere Informationen über die Toten stehen unter Aufsicht der Polizei und der Stadtverwaltung. Neben Mädchen- und Frauengräbern befindet sich dort eine beträchtliche Anzahl von Kindergräbern. Da sie außerehelich geboren wurden, wurden sie erwürgt oder auf die Straße geworfen, einige fand man in verlassenen Häusern, sie starben an Hunger, Kälte oder Hitze.
Es mag grausam klingen, dass die, die diesen Verbrechen zum Opfer gefallen sind, auf dem Friedhof zu Nummern degradiert werden, tatsächlich aber geschieht dies zu ihrem Schutz. Zum einen, damit ihre Gräber nicht von Angehörigen geschändet werden können, zum anderen hilft die Nummerierung, ihre Fälle zu dokumentieren und vor Gericht bringen zu können.
Ende der 1990er Jahre erließ das kurdische Parlament ein „Gesetz der Schande“. Nach diesem Gesetz wird jeder, der eine Frau, ein Mädchen oder ein Kind unter dem Vorwand der „Ehre“ tötet, wie jeder andere Kriminelle verurteilt.
Naza Sherwan, Sozialforscherin und Frauenaktivistin, kämpft dafür, dass die Verantwortlichen für die Morde vor Gericht gestellt werden. Eines der größten Probleme dabei, sagt Naza Sherwan, sei, das verwandtschaftliche Verhältnis von Tätern und Opfern nachzuweisen. „Die meisten Leichen werden nach der Tat einfach weggeworfen“, sagt sie. „Selbst wenn sie gefunden und zum Gerichtsmediziner gebracht werden, findet sich niemand aus der Verwandtschaft, der sie identifiziert. Schließlich werden sie von der Gemeinde auf dem Friedhof der Ehrenopfer begraben.“ Damit die getöteten Frauen, Mädchen und Kinder trotzdem nicht in Vergessenheit geraten, protestiert Naza Sherwan gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen für jedes Opfer, sie informieren die Medien und kontaktieren Anwälte, damit diese die Fälle vor Gericht bringen.
Einer dieser Anwälte ist Rozhgar Ibrahim Maruf, der seit Jahren immer wieder versucht, auf das Problem der Ehrenmorde in Kurdistan aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit Naza Sherwan und anderen zivilgesellschaftliche Organisationen haben sie deshalb damit begonnen, die Gräber auf dem Friedhof der Ehrenmorde zu pflegen. „Unser Ziel ist es, alle Gräber vor Zerstörung und Vandalismus zu schützen. Nur so können wir nachweisen, dass die Frauen, Mädchen und Kinder wirklich gelebt haben, und zumindest versuchen, ihre Fälle vor Gericht zu bringen.“
Einer ihrer wichtigsten Verbündeten dabei ist Mohammed Karim. Nacht für Nacht passt der Wachmann des Friedhofs auf, dass die Ruhe der Toten nicht gestört wird. Viel zu oft schon hat er Angehörige dabei erwischt, wie sie versucht haben, die Leichen wieder auszugraben. „Erst töten sie diese armen Menschen“, sagt er, „und dann lassen sie ihnen nicht einmal als Leichen ihre Ruhe. Das darf doch nicht sein.“
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