Grabstätte im Friedwald: Papa Baum
Der Vater unserer Autorin liegt unter einer Buche begraben. Lange haderte sie mit dem Ort, bis sie bei einem Besuch verstand, was sie an ihm hat.
Mein Vater ist zu Lebzeiten so groß und stark wie ein Baum. Das Gute daran ist, dass er uns mit seinen ausladenden Ästen vor Regen und Sturm beschützt, nicht so gut, dass er unser Wachstum nur insofern toleriert, als es nicht über sein eigenes hinausgeht. Wo für andere der Himmel die Grenze ist, ist es für uns seine Baumkrone. Wir haben unter seinen Fittichen zu bleiben, sonst riskieren wir, aus seinem Wald hinausgeworfen zu werden.
Und trotzdem ist mein Vater einer zum Anlehnen. Für meine Mutter und uns vier Kinder, für seine Freunde und Mandant*innen, egal, ob sie Schokoladenfabrikbesitzer oder Sexarbeiterin sind. Wir alle profitieren von seinem großen Herz und seiner Hilfsbereitschaft. Doch irgendwann bekommt er eine Lungenfibrose und sein Ökosystem kippt. Bald ist er so schwach, dass er manchmal einfach umfällt. Ich dürfe meiner Mutter aber nichts davon erzählen, sagt er, sie soll sich keine Sorgen machen. Aber natürlich sind wir krank vor Sorge. Es ist eine Tragödie, wenn ein Baum eingeht und man nichts mehr für ihn tun kann.
Mein Vater stirbt. Bäume sterben gerade unzählige. Sie verdursten oder werden gefällt. Dabei säubern sie unsere Luft und produzieren überlebenswichtigen Sauerstoff. Daran will auch der Tag des Baumes erinnern, der vor vielen Jahren in den USA ins Leben gerufen wurde. Seitdem pflanzen Menschen auf der ganzen Welt im April Bäume.
Auch mein Vater pflanzte in unserem Garten einen Baum, eine japanische Zierkirsche, die in meiner Teenagerzeit leider einging.
Sanfte Hügel, liebliche Bachläufe
Ihm waren Umweltthemen sehr wichtig und er war einer, der höllische Angst vor Friedhöfen hatte. Deshalb war irgendwie auch klar, dass er niemals unter einem normalen Grabstein liegen würde. Doch als meine Mutter uns nach seinem Tod eröffnet, dass unser Vater in einem sogenannten Ruheforst begraben werden soll, bin ich erst mal nicht begeistert. Wie soll ich da ohne Auto hinkommen? Doch die Entscheidung ist längst gefällt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Bei einem Spaziergang durch den Ruheforst werden wir auf einer kleinen Anhöhe fündig. Dort wächst eine stattliche Buche, die zu dieser Jahreszeit so kahl wie der Kopf meines verstorbenen Vaters ist. Ganz in ihrer Nähe stehen zwei kleinere Bäume, die sich fast schon Schutz suchend an sie lehnen. Irgendwie familiär, das Bild, denke ich. Damals bin ich aber noch viel zu aufgewühlt, um die Schönheit dieses Waldes zu erkennen, seine sanften Hügel, die lieblichen Bachläufe zwischen den Bäumen, die Buschwindröschen.
Nichts spricht mich an, ich kann weder den Baum noch den Ort gut leiden. Doch irgendwann erreichen mich ein paar Fotos, auf denen meine Familie unter dem Baum picknickt und die Kinder seinen Stamm mit bunter Knete bekleben. Meine dreijährige Nichte Charlotte spreche jetzt immer von Opa Baum, sagt meine Mutter am Telefon.
Eine Energie geht hin und her
Ein Samstag Ende März. Meine Mutter und ich halten auf dem Parkplatz gleich neben dem Bärlauchfeld. Es ist zwei Jahre her, dass ich zuletzt hier war und ich merke gleich, dass sich etwas verändert hat. Wie wohltuend ich den Wald mit einem Mal finde. Seine Stille und seinen frühlingshaften Geruch. Den Nieselregen, der sich sanft über mein Gesicht legt und wenig später von der Sonne getrocknet wird. Das Vogelgezwitscher, die langsam erblühende Natur. Dieses Mal bin ich überwältigt von der Pracht der vielen Buschwindröschen.
Dann sind wir da. Der Baum ist noch genauso groß und kahl, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich mache einen kleinen Schritt auf ihn zu und berühre seine Rinde. Und dann passiert etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte.
Ich spüre etwas in meiner Handfläche. Es ist eine Art Energie, die zwischen dem Baum und mir hin- und hergeht. Ich spüre, dass ein Teil meines Vaters in diesem Baum ist und ich mit ihm kommunizieren kann. Nicht mit Worten, sondern auf einer Ebene, die sich unserer Sprache entzieht.
Ich gebe mir einen Ruck und umschließe mit beiden Armen den Stamm. Ich komme nicht um ihn herum, wie ich auch um meinen Vater nie herumgekommen bin. Ich lege meine Wange an seine raue Haut. Ich weine. Ich vermisse dich, schicke ich durch die Rinde. Ich hab dich lieb, Papa Baum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland