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Götz Alys Buch über Euthanasie 1939-1945In stillem Einvernehmen

Götz Aly hat die Geschichte der NS-Programme zur Tötung behinderter Menschen gebündelt und erkannt: Perfektionswahn hatten nicht nur Nazis.

Aly möchte alle Opfer-Namen veröffentlichen: Hier ein Gedenkbuch mit mehr als 8.000 Namen von Euthanasie-Opfern in der Gedenkstätte Grafeneck. Bild: dpa

Gänzlich exakte Zahlen gibt es nicht, und wahrscheinlich können sie auch nie ermittelt werden. Aber mehr als 200.000 Menschen wurden in Deutschland zwischen 1939 und 1945 ermordet – und es waren die wehrlosesten Männer, Frauen und Kinder überhaupt, denn sie waren in irgendeiner Weise behindert, körperlich oder geistig, zeitweise oder dauerhaft. Sie wurden in zu Erstickungskammern umgebauten Omnibussen vergast, in Krankenhauszellen totgespritzt oder man ließ sie verhungern.

Die Geschichte der NS-Programme zur Tötung von Menschen, die buchstäblich unnütz, aber hilfsbedürftig waren, ist keine verdunkelte mehr – im öffentlichen Bewusstsein kann gewusst werden, dass Staat wie Gesellschaft des Nationalsozialismus von Menschen träumten, die keine Makel tragen, weder geistig noch körperlich. Der Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly hat wesentlich dazu beigetragen, dieses Wissen zu bergen. Er hat die stummen Archivalien, die Leser heftig berührend, zum Sprechen gebracht.

Der wichtigste Befund aber, ein zweigeteilter, der von ihm stammt, lautet: Menschen in psychiatrischen Anstalten, die Angehörige hatten, die sich nach ihnen erkundigten, wurden seltener umgebracht als etwa Behinderte, die von ihren Verwandten abgeschrieben wurden. Und schließlich: Dieser Wahn, Menschen zu perfektionieren, entstammt nicht spezifisch nationalsozialistischer Gedanklichkeit, sondern einer Haltung, die man ingenieurhaft-planerisch-prognostisch nennen kann. Besser: eine intellektuelle Frucht der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, der auch Linke zuneigten – Menschen zur Sonne, zur Freiheit, zum reinen Menschen.

Literataz

Diesen und viele weitere Beiträge lesen Sie in der Literataz, zwölf Sonderseiten zur Leipziger Buchmesse 2013, in der taz vom 13. März. Am Kiosk oder gleich am e-Kiosk. Unter anderem mit Rezensionen zu Büchern von Lisa Kränzler, David Wagner, Toni Negri und Michael Hardt und vielen mehr.

Aly schreibt die Geschichte des falsch „Euthanasie“ (schöner Tod) genannten Verbrechens nicht neu. Muss er ja auch nicht: Sein Buch bündelt die eigenen Arbeiten, die er seit den frühen 80er Jahren verfasst hat, anfänglich oft im Bund mit dem Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth und der Historikerin Angelika Ebbinghaus. Diese drei forschten teilweise unabhängig vom Mainstream der Historiker – ein starkes, bleibendes Verdienst.

Aly nun hat seine „Gesellschaftsgeschichte“ eben „Die Belasteten“ genannt, weil die Menschen, um die es geht, tatsächlich eine Last waren: unter perfektionspolitischen Umständen aber eine, die nicht getragen werden sollte.

Die Spritze als Erlösung

Euthanasie – ein Wort übrigens, das verschwiegen die nationalsozialistischen Ärzte nicht, das vor allem auf die Last der Angehörigen anspielte: Indem man so tat, als trüge eine tödliche Spritze oder ein Gas zur „Erlösung“ des Pfleglings, des Patienten bei, wurde die moralische Hemmschwelle zum Einverständnis mit dem Töten des behinderten Angehörigen krass gesenkt. Dass es, alles in allem, auch für viele Angehörige eine Erleichterung bedeutete, sich nicht mehr um ihre unheilbar versehrten Angehörigen kümmern zu müssen, dass es für das Regime darum ging, weniger „unnütze Esser“ versorgen zu müssen, wird beklemmend deutlich.

Der Autor erläutert, weshalb gerade in katholischen Gegenden der familiäre Widerstand gegen das euthanasierende Regime zäh ausfiel. Der Text Alys räumt neuerlich mit dem Gerücht auf, das NS-Regime habe diktatorisch, „ohne Rücksicht auf Verluste“ (Alltagssprache im Dritten Reich) über alles hinweg regiert – in puncto Mord an Behinderten lag es den beteiligten Ärzten und Funktionären stets an irgendeinem Einvernehmen mit den Angehörigen.

Ein weiteres Erinnerungsgroßmöbel

„Die Belasteten“ enthält ein Plädoyer. Aly möchte, dass die Namen aller im Namen der Euthanasie Ermordeten in einem zentralen Register veröffentlicht werden. Alle sollen so erfahren können, ob es in ihrer Familie ein Opfer der NS-Morde an Behinderten und Traumatisierten gegeben hat. Der Grund, ein solches Verzeichnis nicht aufzubereiten, sei unter anderem, dass die Familien der Opfer nicht belastet werden mögen. Aly findet das falsch.

Ein weiteres Denkmal, wie jüngst auf einer EU-Konferenz zur Euthanasie gefordert, ist in diesem Sinne unnötig. Es wäre ein Stück Mahnmal, das nur das Ganze nennt, nicht die einzelnen Menschen, es wäre ein weiteres Erinnerungsgroßmöbel, eines für die Scham, die an diesem Thema immer noch haftet. Aly hat entscheidendes Verdienst daran, diese falsche Scham gelüftet zu haben.

Die Belasteten. ,Euthanasie' 1939-1945“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 356 S., 22,99 Euro

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8 Kommentare

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  • T
    Tine

    Stimme reblek zu:

     

    Frage mich, warum an dieser Stelle so undifferenziert dieser Sch... von Aly (ja, ewig Irrender trifft es wohl) stehengelassen wird.

    "Und schließlich: Dieser Wahn, Menschen zu perfektionieren, entstammt nicht spezifisch nationalsozialistischer Gedanklichkeit, (...) der auch Linke zuneigten..."

  • L
    lowandorder

    Euthanasie - Nicht nur NS-Wahn.

     

    Ja, bekannt. Lassen wir mal Neurobasher Gummibärchen JAF mit

    song contest-Anwandlungen beiseite, so ist richtig, daß in der Linie Darwin/Haeckel/Binding die pseudowissenschaftliche Ansicht, " unbehindertes " Leben sei herstellbar, querbeet in allen möglichen Formen durch das Reich geisterte.

    ( z.B. entfernte Verwandte: keine Kinder, weil früher behindertes Kind usw).

    Für Kopfschütteln wenig Anlaß: Slooterdijks Elmauer Menschenzuchtsrede läßt grüßen!

     

    Katholiken? @ Josef Riga liegt im Ergebnis meines Wissens richtig;

    anderes würde mich auch aufgrund Kenntnissen in ähnlichen Feldern irritieren.

  • JR
    Josef Riga

    @tazitus "Den Satz versteh ich nicht".. Da will ich Ihnen gerne helfen: es fällt gläubigen Menschen schwerer, ihre Angehörigen als lebensunwert umbringen zu lassen, als es Nichtgläubigen fällt. Daher war der katholische Widerstand gegen das NS-Regime in allen Belangen zäher als der der Nicht-christen. Da es aber nur noch wenige christen in Deutschland gibt, hatten die Nazis freie _Bahn.

  • R
    reblek

    "Besser: eine intellektuelle Frucht der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, der auch Linke zuneigten – Menschen zur Sonne, zur Freiheit, zum reinen Menschen." - Klar, wenn Feddersen in die Tasten greift, muss er, ohne ein Argument oder Fakt zu nennen, gegenüber links ausfallend werden. Offensichtlich steckt in seiner eigenen Geschickte soviel Dreck, dass er sich durch das Anschwärzen von Linken reinwaschen will.

  • P
    PeterJ.

    "Der Autor erläutert, weshalb gerade in katholischen Gegenden der familiäre Widerstand gegen das euthanasierende Regime zäh ausfiel."

     

    Nun, liest man andere Rezensionen, scheint exakt das Gegenteil im Buch erläutert zu werden. Siehe auch das ZDF-Video mit Aly. Was soll das ?

  • W
    Wolfgang

    Info.-Empfehlung:

     

    Medizin unterm Hakenkreuz, VEB Verlag und Gesundheit 1989. Herausgegeben von Achim Thom u. Genadij Ivanovic Caregorodcev.

     

    Inhalt u.a.:

     

    I. Wissenschaft und Medizin im Faschismus - die Voraussetzungen ihrer Indienstnahme für die Machtabsicherung und Kriegsvorbereitung eines reaktionären Regimes ...

    II. Die praktische Umsetzung der faschistischen Rassenhygiene - von den Zwangssterilisierungen bis zum Massenmord ab chronisch psychisch Kranken ...

    III. Leistung um jeden Preis - die Pervertierung der Gesundheitsförderung durch inhumane Wertgebung ...

    IV. Die Auswirkungen der faschistischen Ideologie und Gesundheitspolitik auf einzelne Fachgebiete der Medizin ...

    V. Von der Begrenzung humaner Wirkungsmöglichkeiten der Medizin bis zur verbrecherischen Praxis der Humanexperimente und des Genozids unter den Bedingungen der faschistischen Kriegsführung ...

    VI. Antifaschistischer Widerstand und humanistische Bewährung aus persönlicher Verantwortung - die Lehren der Geschichte für medizinethische Fragen unserer Zeit {...} - die Lehren der Geschichte für die soziale Verantwortung des ärztlichen Berufes und die medizinische Ethik in unserer Zeit {...}

  • U
    Ute

    Während man Götz Aly oft als Irrenden bezeichnen muss, ist er hier wohl nur ein Nachzügler.

     

    Was seine Fleißarbeit nicht schmälern soll, aber er will sie ja auch bezahlt haben.

  • T
    tazitus

    "..Der Autor erläutert, weshalb gerade in katholischen Gegenden der familiäre Widerstand gegen das euthanasierende Regime zäh ausfiel..."

     

    Den Satz verstehe ich nicht.