Globale Orchestermusik ohne Exotismen: Die Auflösung des Selbst
Die Musik des Berliner Trickster Orchesters ist klanggewordene Utopie. Synthies, asiatische Flöten und westliche Violinen sind gleichberechtigt.
Orchestermusik ist oft gefangen in einer toxischen Beziehung zwischen Form und Inhalt. Instrumente unterliegen einer strengen Hierarchie. In der klassischen Musik westlicher Gefilde dürfen die Violine oder das Klavier solistisch glänzen, während die Posaune ein einsames Dasein als begleitendes Element fristet. Manchmal muss sie ein halbes Stück lang warten, bis sie endlich und dann oft nur ein einziges Mal erklingen darf – etwa wenn ein dramatischer Höhepunkt ansteht.
Klanglich müssen sich alle Instrumente dabei stets einem Regime unterordnen, dessen Name schon mehr nach Amtsstube als Kunst klingt: das „diatonisch-chromatisch-enharmonische Tonsystem“ ist zuständig dafür, dass die eigentlich aus unendlichen Klängen bestehenden Instrumente stets innerhalb der zwölf Töne der Tonleiter bleiben – was Musik hervorbringt, die ganz schön, aber auch recht standardisiert klingt und am Ende stets den Pfad zurück nach Hause, zum Grundton, findet. Happy End. Alle klatschen.
Die Musik des Berliner Trickster Orchester ist dafür das perfekte Gegenbeispiel. Auf dem neuen, gleichnamigen Debütalbum reiben sich Töne aneinander, überlagern sich Rhythmen, verfremden sich Klänge oder lösen sich während des Spielens in ihre Einzelteile auf.
Das Stück „Por se ssedaa“ beginnt mit einer getragenen Melodie, gespielt von Streichinstrumenten, bevor sie von kurzen Tönen einer Koto, der japanischen Zither, und mikrotonalem Gesang perforiert wird.
Lässiger Jazz-Groove
Sie sind der Auftakt für einen lässigen Jazz-Groove aus vorwärtsstolpernden Drums und Kontrabass, bevor die akribisch aufgebaute Klangarchitektur implodiert und sich der Klang von Mohamad Fityans Ney, einer zentralasiatischen Längsflöte, heranschleicht.
„Trickster Orchestra“ erscheint am 23. April beim Label ECM Records.
Dass es dabei immer wieder zu schönen Vewirrungen der Wahrnehmung kommt, etwa wenn die Kawala, eine arabischen Rohrflöte, plötzlich wie eine Stimme oder das Vibrafon wie ein Kontrabass klingt, zeigt, dass hier nicht nur die übliche, von besagten Tonsystemen bestimmte Hierarchie der Instrumentierung, sondern auch die der Spielweisen aufgebrochen werden.
Beim Trickster Orchester ist der Name Programm: Traditionen werden ausgetrickst und Regeln werden gebrochen, scheinbar Unvereinbares wird vereint: So erzeugt das Aufeinandertreffen unterschiedlich gestimmter Instrumente wie die türkische Kanun mit der Violine oder Bratsche für mit westlicher Musik geschulte Ohren harmonische Reibungen.
Unterschiedliche Tonsysteme werden hier nicht einem einzigen untergeordnet, sondern stehen nebeneinander. Doch nicht nur Klänge, auch das Perkussive wird aus der üblichen Rolle der schieren Begleitung befreit, zu hören etwa beim von Elektronik zerhackten Schlagzeug-Solo in „Kords Kontinuum“.
Ohne Metaphern oder Exotismen
Dass hier ein Orchester wie eine Jazz-Band denkt, ist vor allem dem Stück „Modara“ anzuhören, mit seiner wunderbaren Verschaltung elektronischer Sounds mit Jazz-Mustern und spätromantischen Streicherarrangements ein Highlight. Es kann exemplarisch stehen für die transtraditionelle Vision des 23-köpfigen Orchesters, das von Cymin Samawatie und Ketan Bhatti geleitet wird.
Samawatie, die hier auf Persisch singt und wie Bhatti (Schlagzeug) aktiver Teil des Ensembles ist, bezieht sich in ihrem Text auf den Dichter Jalaluddin Rumi, der Modara betrachtet als „Ort der intensiven Begegnung und der Auflösung des Selbst in etwas völlig Neues“.
Es klingt geradezu utopisch: das Partikulare erlauben, ohne das Universale ganz aufzulösen. Doch die größte Stärke der auf dem renommierten Label ECM erschienenen Musik liegt nicht in ihrem Potenzial für blumige Feuilleton-Allegorien, sondern darin, neue Klangwelten zu schaffen, die erst gar keine Metaphern oder Exotismen zulassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid