Gewalt und die Wahl in Schweden: Ausgegrenzt und bewaffnet
In Malmö häufen sich Schießereien. Schuld sei die Einwanderung, hetzen Nationalisten. Andere machen die verpatzte Sozialpolitik verantwortlich.
Ajouz ist hier aufgewachsen. Er ist 20 Jahre alt. Mit seinen Freunden spricht er schwedisch, mit den Eltern arabisch. Am Sonntagnachmittag ist die Stimmung in Holma entspannt: Der Friseur fegt den Salon aus, eine Frau radelt mit Einkaufstüten vorbei, ein Vater schaut seinen Kindern beim Spielen zu. Doch die Geschichte, die Ajouz erzählt, ist kein Einzelfall. Seit dem Jahreswechsel sind in Malmö schon elf Menschen erschossen worden.
Die Opfer sind gewöhnlich polizeibekannte junge Männer, aus Gegenden wie Holma, das von der Polizei zu den landesweit etwa 60 „Problembezirken“ gerechnet wird. Wie die meisten dieser Gebiete ist auch Holma migrantisch geprägt. Laut schwedischer Statistikbehörde haben insgesamt 45 Prozent der Einwohner Malmös einen Migrationshintergrund, mehr als in jeder anderen schwedischen Großstadt.
Gefundenes Fressen für Rechtspopulisten
Dass Malmö in den letzten Jahren regelmäßig wegen tödlichen Schießereien in den Schlagzeilen landet, macht die Stadt zu einem gefundenen Fressen für Rechtspopulisten, in Schweden und weltweit. Im Wahlwerbespot der nationalistischen Schwedendemokraten, die bei der Parlamentswahl am Sonntag mit etwa 20 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte einfahren dürften, behauptet Parteichef Jimmie Åkesson, zu dramatischer Musik und Bildern von nächtlichen Polizeieinsätzen, dass die „Masseneinwanderung“ Teile Schwedens in den Bürgerkrieg gestürzt hätten.
Für Leandro Schclarek Mulinari hat dieses Bild wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Schclarek Mulinari stammt selbst aus Malmö, er promoviert er in Kriminologie an der Universität Stockholm. „Wir Kriminologen müssen in der öffentlichen Debatte hier immer öfter als Notbremse fungieren“, sagt er. „Die Vorstellung von Malmö und Schweden als eine Art Inferno, ist nicht nuanciert.“ Von einer allgemeinen Eskalation krimineller Gewalt könne keine Rede sein. „In den 1980er und 1990er Jahren lag die Mordrate in Schweden etwa 1,4 pro 100.000 Einwohnern, heute liegt sie bei etwa 1,1“, sagt er. „Was wir sehen, sind starke lokale Fluktuationen, also dass innerhalb kurzer Zeiträume in spezifischen Milieus – wie derzeit in Teilen von Malmö – viel geschossen wird.“ Darüber berichtet würde jedoch nur wenn sich solche Ereignisse häuften, nicht wenn sie wieder abnehmen.
Neu ist aber der wachsende Anteil von Morden, die mit Schusswaffen verübt wurden. Laut Sven Granath, der für die Stockholmer Polizei zu dem Thema forscht, ist nicht die Zahl krimineller Akteure gestiegen, sondern deren Zugang zu Schusswaffen. „Durch einen kleinen aber stetigen Schmuggelverkehr der letzten 20 Jahre aus den ehemaligen Bürgerkriegsgebieten im Balkan gibt es heute ein Arsenal an illegalen Waffen im Land.“ Da die Schmuggelroute nach Schweden über die Öresundbrücke nahe Malmö führt, haben sich gerade hier viele Waffen angesammelt. „Das Vorhandensein von Schusswaffen wiederum erleichtert andere Straftaten wie Erpressung und Drogenhandel, die ihrerseits zu weiteren Konflikten im kriminellen Milieu führen.“
Granath zufolge haben die Schwedens Behörden diese Entwicklung verschlafen. „Man konzentrierte sich lange und erfolgreich auf traditionelle Formen von Gewalt wie etwa häusliche und vernachlässigte die Bekämpfung von illegalem Waffenbesitz. Inzwischen ist aber der Zoll aktiver geworden, und schon der Verdacht, dass gegen Gesetze zum Waffenbesitz verstoßen wurde, führt seit Jahreswechsel automatisch zu U-Haft. Einen weiteren Anstieg dieser Art von Gewalt erwarte ich daher nicht.“
Niedergang der Schwerindustrie
Auch wenn sich die Gewalt in Malmö insofern durch den Zugang zu Schusswaffen verstehen und möglicherweise auch eindämmen lässt, greift dies laut Schclarek Mulinari nicht weit genug. „Wir erleben eine Konzentration von Waffengewalt in den ärmsten Gebieten. Diese Polarisierung der Gewalt spiegelt eine wachsende Polarisierung der Klassenverhältnisse in der Gesellschaft“.
Seit dem Niedergang der Schwerindustrie Ende der 1980er setzt Malmö alles daran eine „Stadt des Wissens“ zu werden: Die Stadt bekam eine eigene Uni, in den ehemaligen Werftbezirken am Wasser entstanden teure Eigentumswohnungen. In Arbeitergegenden wie Holma, der Heimatbezirk von Ali Ajouz, zeigen sich die Schattenseite dieser Wandlung: Die Jugendarbeitslosigkeit, die in Malmö mit etwa 11 Prozent ohnehin über dem Landesdurchschnitt liegt, ist in Holma besonders ausgeprägt, der Wohnungsmangel auch.
Für Jungs wie Ajouz, der wie die meisten seiner Freunde noch bei den Eltern wohnt, ist die Zukunftsstadt mit Seeblick weit weg. „Man ist hier wie eingeschlossen“, sagt er. „Ein Freund von mir sucht seit Monaten erfolglos Arbeit. Und dann kriegt er ein Angebot auf der Straße: Verdien dir während der Jobsuche doch mit Dealen was dazu. So fängt es an, und dann bleibt man darin hängen. Ich kenne keinen, der damit glücklich ist. Klar will man ein anderes Leben, einen richtigen Job, und Lohn am Monatsende. Aber was tun, wenn man schon heute Geld braucht?“
Schlagstockpolitik
Solche Geschichten erlebt die Malmöer Sozialarbeiterin Sigrun Sigurdsson immer wieder. Inzwischen seien bereits acht Jugendliche, die sie betreut habe, durch Straßengewalt ums Leben gekommen, erzählt sie, eine sonst heitere Frau mittleren Alters, mit bitterem Blick. „Alle diese Jungs sind in Malmö aufgewachsen, und ich weiß, dass man mit den richtigen Maßnahmen jeden einzelnen hätte retten können.“ Die Stiftung, für die Sigurdsson arbeitet, heißt Fryshuset und bietet eine breite Palette an sozialen Projekten in Malmö an, von Hilfe für alleinstehende Mütter bis hin zu Aussteigerprogrammen für Kriminelle.
Sigurdsson selbst hilft Jugendlichen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. „Wir als Gesellschaft müssen diesen Jungs mehr bieten können als die Kriminalität“, sagt sie. Am besten so früh wie möglich. „Schulkinder, die in beengten Verhältnissen aufwachsen, kriegen die Hausaufgaben nicht hin und verbringen stattdessen mehr Zeit auf den Straßen, wodurch die Eltern an Einfluss verlieren.“ Doch die Politik denke nur kurzfristig, und rede stattdessen vor allem über mehr Kameras und Polizei, sagt Sigurdsson und schüttelt den Kopf.
Im Wahlkampf werden tatsächlich immer wieder Rufe nach härterem Durchgreifen laut. Selbst das Militär wollen einige Politiker in die Problembezirke zu schicken. Für KriminologInnen wie Schclarek Mulinari bewegt man sich damit in die verkehrte Richtung. „Dass diese Schlagstockpolitik langfristig effektiv sein sollte, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Im Gegenteil kann Repression und eine allgemeine Verdächtigung bestimmter Stadtteile das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung unnötig belasten, was wiederum sinnvolle Polizeiarbeit, wie die Aufklärung von Mordfällen, erschwert.“
„Selbsterfüllende Prophezeiung“
Schon jetzt, erklärt er, zeigten Studien, dass Jugendliche in armen Stadtteilen Schwedens häufiger wegen Verdachts auf illegalen Drogenbesitz überprüft werden, als ihre Altersgenossen in wohlhabenden Bezirken, obwohl der wirkliche Drogenkonsum statistisch andersherum verteilt ist. „Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung – wenn man Menschen ständig als Kriminelle behandelt, antworten sie irgendwann entsprechend“, sagt Mulinari.
Diese Dynamik, die durch Schwedens repressive Drogenpolitik nur verschärft wird, kennt Ali Ajouz nur allzu gut. „Du gehst in die Schule und machst alles richtig und rauchst halt am Wochenende mit den Freunden mal ne Tüte. Plötzlich wirst du von einer Streife erwischt und vorbestraft. Da denkst du leicht, verdammt, jetzt bin ich sowieso am Arsch, da kann ich genauso gut selber ins Geschäft einsteigen.“
Das schwierige Verhältnis zur Polizei, das in Holma viele teilen, wird besonders konkret, wenn Ajouz an seine eigene Zukunft denkt. „Ich rate meinen Freunden immer sich von dem Mist fernzuhalten, aber mehr als reden kann ich nicht. Die Polizei dagegen scheint, statt die Gewalt zu stoppen, mehr drauf zu setzen, Leute fürs Grasrauchen zu bestrafen“, sagt er. Ajouz selbst träumt davon, irgendwann mit mehr als nur Worten zur Lösung der Gewaltproblematik beitragen zu können. Wie genau, ist er sich aber nicht sicher. „Ich denke seit einiger Zeit darüber nach, selbst Polizist zu werden“, sagt er nachdenklich und lacht ein bisschen über sich selbst: „Dabei hasse ich die Polizei.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“