Gewalt und Vorurteil in einem Dorf: Die Stille von Seulingen

Eine Familie zieht in ein Dorf. Aus Außenseitern werden Eindringlinge. Am Ende schlagen zwei Männer fast einen Rentner tot. Eine Motivsuche.

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Reinke in Seulingen. Sie sind mittlerweile woandershin gezogen. Bild: Gabriela Keller

SEULINGEN taz | Wie sich das Böse im Dorf festsetzen konnte, weiß keiner mehr genau. Fest steht nur, wie es endete: Ein Mann liegt vor seinem Haus an der Hauptstraße von Seulingen im Untereichsfeld, südliches Niedersachsen. Ein Rentner, 69 Jahre. Aus den Wunden an seinem Kopf rinnt Blut. Ringsum die Nachbarn jubeln und grölen. Das Böse ging um in Seulingen, und das Böse musste weg.

Nun sitzt Christa Reinke* in ihrer Küche. Sie raucht. Die Worte bleiben ihr weg. Statt zu reden, steht sie auf, nimmt die Plastiktüte vom Kühlschrank und stellt eine Arzneipackung nach der anderen auf den Tisch. 16 Tabletten muss ihr Mann jeden Tag schlucken, sagt sie: „Vorher hat er alles machen können. Jetzt kann er gar nichts mehr.“ Nicht alleine essen, nicht laufen, nicht aufs Klo gehen. „Er sagt selber zu sich: ’Ich bin ein Krüppelschwein.‘“

Die Geschichte, die Helmut Reinke* zum Pflegefall gemacht hat, wirkt wie ein dunkles Sittenstück, Provinztheater. Es zeigt, wie nah Angst und Hass einander sind und wie schnell sich eine Gemeinschaft zu einer Front verschließen kann, der jedes Mittel recht ist, auch die Gewalt.

Sonntag, 1. September 2013. Es ist tief in der Nacht, als sich zwei Cousins aus dem Ort noch einmal aufmachen, Handwerker, 31 und 27 Jahre alt, angesehene Bürger. Sie kommen von einem Musikfest, da wurde über Reinkes gesprochen. „Man traut sich gar nicht mehr vor die Tür“, sollen die Frauen gesagt haben. Nun steuern die Cousins auf das Haus am Ende der Hauptstraße zu. Sie haben Feuerwerkskörper und Baseballschläger dabei.

„Komplett Asoziale“

Eineinhalb Jahre sind vergangen; die Reinkes sind weggezogen. Klares Licht fällt über den Dorfkern, über gepflegte Fachwerkhäuser und Weiden, auf denen satte Schafe dösen. Die Apfelbäume blühen. Im Gasthof „Zum Krug“ gibt es heute Forelle.

Neben dem Haus, in dem die Reinkes wohnten, steigt ein junger Landwirt mit blonden Haaren vom Trecker. Sascha Wedekind stört sich daran, wie die Zeitungen über den Fall berichtet haben. „Leider werden die da immer als normale Menschen beschrieben.“ Was die denn sonst sein sollen? „Asoziale. Komplett Asoziale. Keiner von denen hat gearbeitet.“ Er stützt die Hände in die Hüften, schaut die schmale, stille Straße herab. Er sagt, dass sich das Leben verändert hatte, seit die Reinkes hier lebten: Die Söhne sollen herumgepöbelt und Jugendliche attackiert haben. Einmal hätten sie seinen kleinen Bruder mit Schlagstöcken die Straße hochgejagt. Das Dorf war in Angst, sagt er. „Jeder hier ist froh, dass die weg sind.“

Helmut Reinke wurde fast zu Tode geprügelt. Die Täter fügten ihm einem Schädeltrümmerbruch und Hirnblutungen zu. Sie wurden noch in derselben Nacht festgenommen. Das Landgericht Göttingen hat sie im März wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, den älteren zu dreieinhalb, seinen jüngeren Cousin zu drei Jahren Jahren Haft. Nur was genau in Seulingen geschehen ist, konnte auch der Prozess nicht klären.

Der Konflikt zwischen den Nachbarn hatte sich über Monate hochgeschaukelt. Die Cousins sollen damit aber gar nichts zu tun gehabt haben. Warum also haben gerade sie dem Rentner den Schädel eingeschlagen? Die Kammer hat 23 Zeugen befragt; die einen logen, andere behaupteten, sich an nichts zu erinnern. „Einige wussten mit Sicherheit mehr, als sie gesagt haben, insbesondere hinsichtlich des Motivs“, sagt ein Sprecher des Gerichts.

Ist Ausländerfeindlichkeit ein Motiv?

Reinkes leben noch in der Region, aber in einem anderen Dorf. Die Mutter kauert am Küchentisch, eine schmale Frau, 59 Jahre, mit knochigen Schultern und Misstrauen in den Augen. Gegenüber lehnen ihr Sohn Carsten* und ihre Tochter Melanie*. Zwei Kleinkinder krabbeln umher. Ein Chihuahua trappelt über das rissige Laminat. Helmut Reinke ist nicht da, er musste ins Krankenhaus, epileptische Anfälle. „Er kommt nicht zur Ruhe. Er fragt immer noch: Warum haben die das gemacht?“, sagt seine Frau. „Da kann ich auf ihn einreden. Ich sag: Wir müssen da beide drüber wegkommen.“

Die Reinkes zogen 2011 nach Seulingen. Die Probleme fingen im Mai oder Juni 2013 an. Immer wieder sammelten sich nachts junge Männer vor ihrem Haus. Sie warfen Steine gegen die Mauern und Böller. Die Familie erstattete mehrfach Anzeige. Der Dorfpolizist reagierte darauf nicht. Seulingen hat 1.300 Einwohner, 300 sind im Schützenverein, der Polizist ist Vorstandsvorsitzender. Gegen ihn läuft nun ein Disziplinarverfahren.

„Meiner Meinung nach war das ein ausländerfeindliches Dorf“, sagt Melanie Reinke, deutet auf die kleinen Jungen. „Sie sehen ja, dass das keine reinen Deutschen sind.“ Sie und ihre Schwester wurden fast zeitgleich schwanger, sie von einem türkischen Montagearbeiter, die Schwester von einem Bulgaren. Gleich danach, sagt sie, ging die Schikane los; die Männer, die bei Nacht Steine warfen, hätten geschrien: „Ausländerschlampen“.

Der behinderte Bruder

Es gehört zu den kuriosen Details dieses Falls, dass man zugleich in Seulingen erzählt, Carsten Reinke sei ein Rechtsextremer. Er soll Zeit im Gefängnis verbracht haben. Die Familie streitet das ab. Tatsachen und Gerüchte lassen sich kaum noch trennen. Sicher ist, dass im Dorf viel geredet wurde, über die Hunde der Familie, die Töchter mit ihren „südländischen Freunden“ und die angeblich gewalttätigen Söhne, so schrieb nach der Tat eine Lokalzeitung.

Der Vater hatte damals einen Schäferhund, die Schwester hält eine Dogge. Ein harmloses Tier, sagt Melanie Reinke, „die Kinder spielen damit Pony“. Es kam aber noch etwas dazu: Ihr jüngerer Bruder hat eine leichte Behinderung. Er tat niemandem etwas. Aber er stand oft an der Straße, stundenlang, und sah den Leuten zu. Einmal tauchte er an der Grundschule auf, da bekamen die Leute Angst um ihre Kinder.

Die meisten Vorwürfe gegen die Reinkes bleiben diffus. Nur ein Fall lässt sich konkret fassen: Ende August 2013 gingen zwei, drei männliche Mitglieder der Familie mit Teleskop-Schlagstöcken auf ein paar junge Männer in der Nachbarschaft los. Die Familie gibt den Vorfall zu. So hätten sie sich zu wehren versucht gegen diejenigen, die sie nachts ständig drangsalierten. Mehr wollen sie nicht sagen.

Pöbel versus feine Gesellschaft

So kam eine Kettenreaktion in Gang; Außenseiter wurden Eindringlinge wurden Bedrohung. Niemand versuchte, den Konflikt zu lösen. Carsten Reinke sagt: „Wir sind Einzelgänger, die nicht gern Kontakt zu anderen Leuten haben.“ Als die Polizei in Seulingen eintrifft und Helmut Reinke schwer verletzt vor seiner Tür liegt, stehen die Anwohner dabei und johlen. „Endlich macht mal jemand was“, soll einer gesagt haben. So hat es eine Polizistin während des Prozesses beschrieben.

Wie lässt sich eine solche Eskalation erklären? „Die feine Seulinger Gesellschaft hat alles darangesetzt, den Pöbel aus dem Dorf zu treiben“, so hat es Steffen Hörning, der Anwalt der Familie, in seinem Plädoyer formuliert. Nun sitzt er in seinem Büro in Göttingen und ordnet seine Gedanken; ihm hängt der Prozess noch nach. „Die Zeugen haben gnadenlos gelogen. Die Kammer stieß auf eine Mauer des Schweigens.“ Für ihn liegen die tieferen Ursachen in der sozialen Struktur Seulingens. Drei, vier Unternehmerfamilien gäben den Ton an, die Täter stammten aus einer davon. Ein erzkonservativer Ort, sagt der Jurist: „Da passten die Reinkes nicht ins Bild.“

Auch die Spurensuche in Seulingen liefert keine klareren Antworten. Die Sonne senkt sich über die Giebeldächer; ein paar Nachbarn graben in den Vorgärten. Zwei alte Frauen laufen über die Brücke im Ortskern. Die eine schleppt Einkaufstüten, die andere stützt sich auf Nordic-Walking-Stöcke. Fragt man nach Reinkes, winken sie ab: „Da spricht keiner mehr drüber.“ Doch sie erinnern sich, dass die Zuzügler die Ruhe im Ort störten. „Man hatte Angst, wenn die einem entgegenkamen mit ihren großen Hunden.“ Wovor sich die Leute fürchteten? „Das wissen wir nicht genau“, sagt die eine, die andere sagt, lauter: „Man fühlte sich eben bedroht.“

Vitales Vereinsleben

Wenige Meter weiter, gleich hinter der Kirche, steht das Bürgerhaus. Glockenläuten dringt in das Büro des Bürgermeisters. Matthias Rink ist CDU-Mitglied, ein höflicher, besonnener Mann. Auch er versteht nicht, was im Spätsommer 2013 in seine Gemeinde gefahren ist; er wirkt fassungslos, noch jetzt. „Das war etwas, was man so in Seulingen nicht kannte“, sagt er. „Unser Dorf ist idyllisch, familiär und getragen von einem vitalen Vereinsleben.“ Rink stochert nach Gründen: Da war der geistig eingeschränkte Sohn, der die Leute mit seiner Art verunsicherte. Und da waren der ältere Sohn und ein Schwager: „Die sind wohl sehr ruppig aufgetreten – ich weiß es nur vom Hörensagen.“

Kurz nach der Tat gab es hier im Bürgerhaus einen Informationsabend. Fast 200 Menschen waren gekommen. Als die Polizei mitteilte, dass Reinkes Seulingen verlassen, applaudierte die Menge. „Ja“, sagt der Bürgermeister. „Das war ein Stück weit peinlich.“ Ihm ist klar, dass sein Ort nicht gut dasteht in dieser Geschichte. „Das war wohl Ausdruck der Erleichterung darüber, dass der Konflikt jetzt vorbei ist.“

Die Cousins haben vor Gericht gesagt, sie wollten die Familie nur erschrecken. Sie zündeten die Böller und warfen sie gegen das Haus. Dann seien die Hunde auf sie zugestürmt, Helmut Reinke habe versucht, dem Jüngeren den Schläger zu entreißen. Es sei zu einem Gerangel gekommen, der Ältere habe ihn aus Versehen am Kopf getroffen. Gegen das Urteil haben sie Revision eingelegt.

Wiederhergestellte Ordnung

Christa Reinke sagt, sie saß mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Gegen halb eins wurde sie von den Knallern aufgeschreckt. Sie ging nach draußen, er folgte ihr dicht. Vor dem Haus standen die Cousins in der Dunkelheit. Der Ältere habe ihrem Mann auf den Kopf gedroschen, sechs, acht Mal. Er habe gebrüllt: „Verpisst euch aus Seulingen, ihr Schweine.“ Ihre Stimme bricht, und ihr Gesicht wird hart. „Man will einen Strich drunter machen, man will vergessen“, murmelt sie.

In Seulingen ist längst Ruhe eingekehrt. Das Böse ist aus dem Ort verschwunden, die Ordnung wiederhergestellt. Und rund 60 Kilometer entfernt sitzt eine magere Frau am Küchentisch und wird die Bilder in ihrem Kopf nicht los, ihr Mann, der verletzt auf den Asphalt stürzt, und dahinter die jubelnde Menge.

*Die Namen sind geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.