Gewalt und Islam: Eine Frage der Ehre
Sehen Linke über Übergriffe hinweg, wenn sie von Muslimen begangen werden? Darüber diskutierte die Initiative „Ehrlos statt wehrlos“.
Zigarettenrauch hängt in der Luft, an den Wänden stapeln sich Bücher, auf den Stühlen stapeln sich Menschen. Der Raum in der Kneipe Laidak in Berlin-Neukölln ist prall gefüllt, vor allem mit Studierenden aus der „antideutschen“ und „ideologiekritischen“ Szene. Die neugegründete Initiative Ehrlos statt wehrlos will sich vorstellen und hat am Mittwochabend zu einer Veranstaltung „Gewalt im Nahmen der Ehre“ geladen.
Miriam, die sich als Gruppenmitglied präsentiert und anonym bleiben möchte, berichtet, was die Gruppe zur Gründung motivierte: Im letzten Jahr habe es in Nord-Neukölln eine massive Zunahme von gewalttätigen Übergriffen gegeben, vor allem gegen Schwule, Frauen und Juden. Die Täter kämen dabei meist aus arabisch-muslimischen Familien. Um dieses Problem bekämpfen zu können, sei eine theoretische Analyse sowie Praxisarbeit im Sinne von Aufklärung und Prävention notwendig.
Ihre These: Viele sehen über Übergriffe hinweg, wenn sie von Muslimen begangen werden. „So wichtig der Kampf gegen rechte und rassistische Gewalt ist und bleibt – es ist falsch zu schweigen, wenn die Gewalt aus muslimischen Communities kommt.“
Moment. Schweigen? Das letzte Jahr hat doch an anderer Stelle eher das Gegenteil gezeigt: bei rechtsextremen Kundgebungen nach Gewalttaten durch Flüchtlinge in Kandel, Chemnitz und Köthen.
Doppelstandard bei der Beurteilung von Gewalt?
Die Kritik von Ehrlos statt wehrlos richtet sich jedoch hauptsächlich an Linke und Liberale. Hier herrsche bei der Beurteilung von Gewalt ein Doppelstandard. „Den darf es jedoch nicht geben, wenn man die universalistische Forderung nach der Gleichbehandlung aller Menschen teilt, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion“, sagt die Referentin.
In Neukölln sei die Gewalt geprägt von männlichen Kleingruppen, die einem kollektivistisch und repressiv geprägten Ehrbegriff anhingen. Dabei ginge es um Härte, Skrupellosigkeit und Männlichkeit. Die Feindbilder würden in denen ausgemacht, die Schwäche, Weiblichkeit, Verletzlichkeit, eine Abkehr vom Glauben oder eine selbstbestimmte Sexualität repräsentierten.
Neben Schwulen, Transpersonen, Juden, Obdachlosen und Drogenabhängigen seien so insbesondere diejenigen aus muslimischen Familien gefährdet, die sich von islamischen Werten wie denen der Ehre und sexueller Reinheit abwenden oder anfangen, gegen diese aufzubegehren. Die Referentin im Laidak bietet dafür eine psychoanalytische Erklärung an: „Nur die sexuell Ohnmächtige schützt vor der eigenen Angst vor Versagen und sexuellem Kontrollverlust.“ Doch gibt es wirklich einen Anstieg der Gewalt?
Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik ist nicht hilfreich, um Hassverbrechen auszuwerten. Die zuständige Person für LSBTI der Berliner Polizei, Anne Grießbach-Baerns, schätzt, dass 80 bis 90 Prozent der Straftaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen erst gar nicht angezeigt werden.
Überfälle auf LGBT-Personen häufen sich
Nachfrage bei Bastian Finke, der vor 28 Jahren das Antigewalt-Projekt Maneo gegründet und seitdem Hunderte Opfer schwulenfeindlicher Übergriffe beraten hat. Für das Jahr 2017 hat Maneo allein in Berlin mehr Übergriffe auf sexuelle Minderheiten registriert, als die Kriminalstatistik für ganz Deutschland ausweist: 324 Fälle, ein Anstieg von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
„Es ist schon richtig, dass sich Schwule in manchen Berliner Stadtteilen unsicherer fühlen, als in anderen“, sagt er. Doch er mahnt zur Vorsicht: „Unsere größte Waffe ist die Differenzierung und die Aufklärung. Für Pauschalisierungen sind unsere Gegner zuständig.“ Die Hemmschwelle für Übergriffe sinke durchaus durch das Erstarken religiöser, auch islamisch-fundamentalistischer Strömungen, aber auch durch den Erfolg von Rechtspopulisten.
Böse Blicke gäbe es im Prenzlauer Berg auch. Doch die meisten Gewalttäter auf der Straße seien „testosteronaufgeladene Jungmänner aus bestimmten Problemkiezen, um die sich viel zu wenig fachliche Einrichtungen mit zielgerichteten Angeboten kümmern“. Auch ein Blick in die Pressemitteilungen der Polizei zeigt: Überfälle auf LGBT-Personen in Berlin häufen sich. Vollständige Informationen zur Herkunft der Täter liegen nicht öffentlich vor.
Allein im Mai 2018 wurde eine Transfrau an einer Bushaltestelle geschlagen, ein schwuler Mann wurde von einem 16-Jährigen getreten, zwei Männer wurden zunächst homophob beleidigt und dann mit Pflastersteinen beworfen, ein schwules Paar wurde ebenfalls beleidigt und dann mit einem Messer bedroht.
Drei der vier Übergriffe ereigneten sich in Neukölln. „Wir fordern den Schutz der Opfer ein, und zwar ohne dabei in ressentimentgeladenes Gezeter oder szeneinternes Geschwurbel zu verfallen“, sagt Miriam am Mittwoch im Laidak. Sie fordert eine „Solidarität mit den Opfern der Kultur der Ehre“ und eine „Stärkung derjenigen Mädchen und Frauen, die es als Unrecht empfinden, dass sie nicht freizügig und sexuell selbstbestimmt aufwachsen und leben können und derjenigen Jungen und Männer, die Zweifel am Konzept der Ehre haben.“
„Wir haben selber Eier“
Die anschließende Diskussion entzündet sich vor allem an der Frage, inwieweit die Übergriffe tatsächlich auf den Faktor Islam zurückgeführt werden können. Aggressive Männlichkeit finde man ja beispielsweise auch unter Hooligans, wendet ein Zuhörer ein. Das stimme zwar, Hooligans seien jedoch im gesellschaftlichen Abseits, während man „einer islamischen Alltagskultur von der Wiege bis zur Bahre anhängen kann, ohne hinterfragt zu werden“, meint ein anderer. Eine Zuhörerin verweist auf liberal-islamische Strömungen, eine andere widerspricht: Diese Strömungen seien extrem marginalisiert und würden oft nur angeführt, „um das Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern“.
Einige Wochen zuvor auf der Neuköllner Sonnenallee. In Mitten glitzernder Kostüme, Perücken und Stöckelschuhen landet plötzlich ein Ei auf der Straße. Der Mann, der es geworfen hat, steht auf seinem Balkon und schreit „Schwuchtel!“. „Wir haben selber Eier“, ruft ihm die selbsternannte Tunte Kim Simstich zu. Gemeinsam mit Freunden hat er zum sogenannten Tuntenspaziergang eingeladen. Rund 400 Menschen sind der Einladung gefolgt.
„Wir sind hier, wir sind queer“, schallt es jetzt durch die Sonnenallee, in der sich zahlreiche arabische Restaurants, Shisha-Bars und Supermärkte aneinanderreihen. „Der öffentliche Raum gehört auch uns“, sagt Simstich. „Wir wollen nicht nur in geschlossenen Räumen existieren dürfen.“ Auf der belebten Einkaufsstraße fallen die Reaktionen auf die bunten Spaziergänger sehr unterschiedlich aus. Manche schauen interessiert, freuen sich oder winken aus den Cafés. Doch die meisten Blicke, die die Demonstranten ernten, sind eher abschätzig oder gar feindselig.
Gut gelaunt und singend kommt die Menschenmenge nach eineinhalb Stunden am Hermannplatz an. Vor einer Bronzeskulptur steht eine Familie mit zwei Töchtern, das Kopftuch der Mutter ist streng gebunden. Die Frau blickt skeptisch in die Menge, ihr Mann angeekelt, die Töchter erstaunt. Mit strahlenden Augen sprechen die Mädchen zwei verkleidete und geschminkte Männer an und bitten um ein Selfie. Vielleicht ist es das schönste Bild des Tages.
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