Gewalt in Nahost: Wut in Gaza
Es herrschen Arbeitslosigkeit und Armut. Wer sich trotz Israels Scharfschützen an den Protesten beteiligt, hat nichts zu verlieren, analysieren Beobachter.
Die hohe Risikobereitschaft der Männer, die sich bis dicht an den Grenzzaun heranwagen, wohl wissend, dass auf der anderen Seite die israelischen Scharfschützen auf sie zielen, erklärt der Politologe mit der hoffnungslosen Lage in Gaza. „Vor allem Jugendliche denken, dass sie nichts zu verlieren haben. Sie empfinden das Leben im Gazastreifen wie einen langsamen Tod.“
Bei rund 40 Prozent liegt die Arbeitslosenquote, frisches Trinkwasser und Strom gibt es nur sporadisch. Dazu kommt, dass Israel und Ägypten die Grenzen geschlossen halten. Als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnen Palästinenser den Gazastreifen. Dem erbärmlichen Leben zögen deshalb viele besonders religiöse Männer den Freitod vor. „Die Muslime gehen davon aus, als Märtyrer direkt ins Paradies zu kommen, wenn sie sich für ihr Heimatland opfern.“
Nichtsdestotrotz sei Israel „an diesem Wahnsinn“ Schuld, der umgehend gestoppt werden müsse. Abusada fordert eine internationale unabhängige Untersuchung, „ob es den USA gefällt oder nicht“.
Auch Omar Schaban, Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des palästinensischen Forschungsinstituts Pal-Think for Strategic Studies in Gaza, denkt, dass die hohe Arbeitslosigkeit und Armut vor allem junge Palästinenser dazu motiviere, an den Demonstrationen teilzunehmen. „Niemand will sterben“, betont Schaban, sondern die Leute „wollen auf ihre Not aufmerksam machen“, die immer unerträglicher werde.
Hauptgrund dafür sei die Belagerung, die seit der Machtübernahme der Hamas über den Gazastreifen vor elf Jahren begann. Ägypten müsse die Grenze öffnen, was möglich wäre, sobald die Fatah erneut das Kommando über den Gazastreifen bekommt. Der Wirtschaftswissenschaftler appelliert an die arabischen Staaten, ihren Einfluss auf die Führungen von Hamas und Fatah geltend zu machen, um den Zwist beizulegen, der mit Grund für die Not sei.
Für die Islamisten ist ein Krieg nicht wünschenswert
Ungeachtet der zahlreichen Toten am Montag hält sich die internationale Solidarität mit dem Gazastreifen in Grenzen und bleibt vorerst „überwiegend deklarativ“, resümiert Barak Ben-Zur vom Internationalen Antiterrorinstitut in Herzlia. Nur drei Länder, Südafrika, die Türkei und Neuseeland, riefen wegen des harten Vorgehens der Armee gegen die Demonstranten ihre Botschafter zurück. Das sei für Israel „keine allzu erschreckende Bilanz“.
Eine Untersuchung der Ereignisse, die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auf Initiative Kuwaits gefordert hatten, blockierten die USA per Veto. Israel könne sich in New York auf „die absolute Rückendeckung der USA verlassen“, sagt Ben-Zur, räumt jedoch ein, dass der Mangel an konkreten internationalen Maßnahmen nicht unbedingt nur Gutes bedeuten muss. „Wenn es der Hamas nicht gelingt, eine neue Welle der Unterstützung für ihre Sache in der Welt zu erreichen, könnte das zu noch mehr Gewalt führen.“
Ein Krieg sei für die palästinensischen Islamisten allerdings keinesfalls wünschenswert. Die Lektion aus dem letzten Krieg sei, dass „die Macht der Hamas, Israel wehzutun, begrenzt ist, umgekehrt Israel aber der Hamas großen Schaden zufügen kann“. Denkbar wäre vielmehr neuer Terror, sei es im Grenzgebiet zum Gazastreifen, im Westjordanland oder auch innerhalb Israels. „Es könnte überall passieren.“
Vorläufig bleibt sogar die Solidarität der Palästinenser im Westjordanland begrenzt. Die Demonstrationen in Ostjerusalem und in Ramallah, an denen nur einige Hundert Palästinenser teilnahmen, hatten nicht das Ende der Belagerung Gazas zum Ziel, sondern sie galten dem Protest gegen die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, mit der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem umzuziehen, was umgekehrt der Hamas zusätzlichen Zündstoff für die Gazaunruhen brachte.
Unterschätzte Symbolik
Jihia al-Sinwar, Chef des Hamas-Politbüros, sprach im Vorfeld des Blutvergießens von der emotionalen Bindung seines Volks zu Jerusalem. Keinesfalls dürfe man die Symbolik unterschätzen, warnt der Terrorexperte Ben-Zur. Zwar ginge es „nur um ein neues Schild“, das die US-Amerikaner an das frühere Konsulatsgebäude geschraubt hätten. Doch welches Sprengpotenzial „Gefühle im politischen Kontext haben können, wissen wir, seit (der frühere Oppositionsführer Ariel) Scharon im September 2000 den Tempelberg besuchte“ und damit die Zweite Intifada in Gang brachte.
Aktuell mangele es den Palästinensern an muslimischer Unterstützung. „Sogar Marokko und Jordanien haben nicht großartig gegen Trump protestiert“, fällt Ben-Zur auf. Einzig der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief auch den Botschafter aus Washington zu Beratungen in die Heimat ab.
Ob Israel die hohe Zahl von Todesschüssen hätte verhindern können, müssen „Untersuchungen der IDF (Israelische Verteidigungsarmee) zeigen“, meint Ben-Zur. Von Beginn an sei klar gewesen, dass die Hamas darauf abzielt, Tausende Menschen nach Israel eindringen zu lassen. „Wie soll man das stoppen?“, fragt der Terrorexperte selbst. „Vielleicht müssen wir für 50.000 Demonstranten 50.000 Soldaten rekrutieren und sie mit Knüppeln bewaffnen.“ 60 Tote an einem Tag, räumt Ben-Zur indes ein, „ist jenseits aller Logik“. Das Blutvergießen werde neuen Zorn schaffen.
Einen Ausweg sieht der Terrorexperte nicht. Die Regierung in Kairo habe den Versuch eines Dialogs unternommen und ist damit gescheitert. Die Hamas sei „nicht bereit zu einem Fortschritt in kleinen Schritten“. Der Islam „ist schwarz-weiß“, was sich auch an dem Brandanschlag letztes Wochenende am Grenzübergang für Güterverkehr Kerem Schalom zeige. Radikale Palästinenser legten den einzigen Kanal für Nahrungsmittel und Medikamente lahm. Erst am Dienstag konnte der Übergang so weit wiederhergestellt werden, dass 300 Lastwagen aus Israel kommend mit lebensnotwendiger Ware den Gazastreifen erreichten.
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