Gewalt gegen Frauen: Das Hilfesystem braucht ein Update
Gewalt gegen Frauen weitet sich ins Digitale aus und stellt Frauenhäuser vor neue Probleme. Aber das geplante Gewalthilfegesetz droht zu scheitern.
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Nicht einmal die Schulaufgaben ihrer drei Kinder durfte sie unterschreiben und auch kein Portemonnaie besitzen. „Ich habe gelebt wie im Gefängnis“, sagt sie. Körperliche Gewalt habe er ihr zwar nie angetan. Aber bedroht habe er sie oft. Einmal habe er mit einem Messer vor ihr gestanden und gesagt: „Es ist so einfach, Leute umzubringen.“ Ihre jüngste Tochter war mit im Raum. „Sie hat geweint wie verrückt“, erinnert sich Winter. Mit dieser Tochter rettete sie sich ins Frauenhaus, die älteren zwei Kinder blieben beim Vater. Dieser schickte heimlich gemachte Aufnahmen von Winter an ihre Familie und Freund*innen. Und weil er ihr Handy mit seinem verknüpft hatte, konnte er sie verfolgen.
Gewalt gegen Frauen weitet sich aus ins Digitale, auf Smartphones und in soziale Medien. Nicht alles, was Winter erzählt, ist im Detail überprüfbar. Den Aufenthalt im Frauenhaus aber hat eine Mitarbeiterin bestätigt. Und fest steht: Neue Geräte und Anwendungen bieten neue Möglichkeiten für Täter.
Im aktuellen Lagebild Häusliche Gewalt schreibt das Bundeskriminalamt (BKA), dass Stalking im Internet im Rahmen häuslicher Gewalt 2023 doppelt so oft vorgekommen sei wie noch vier Jahre zuvor. Im ebenfalls vom BKA erstellten Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt schreibt die Behörde, die „Möglichkeiten von Gewalt im Netz potenzieren sich – und besonders häufig sind Mädchen und Frauen betroffen“. 2019 zählte das BKA etwa 7.500 betroffene Frauen, 2023 rund 17.000. Die Entwicklung trifft auf ein Hilfesystem, dem seit Jahren das Geld fehlt. Das von der Ampel geplante Gewalthilfegesetz, das das ändern sollte, droht zu scheitern – aber dazu später mehr.
Lange unterschätzte Gefahr
„Über die sozialen Medien können Männer heute ständig drohen und beleidigen“, sagt Suna Tanış der taz. Tanış leitet die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser NRW und arbeitet seit 20 Jahren in einem dieser Häuser. Wenn eine Frau heute ins Frauenhaus komme, frage sie zuerst, ob der Mann Zugriff auf das Handy habe. „Was das für eine Gefahr ist, musste uns auch erst mal bewusst werden“, sagt Tanış. Einmal habe ein Mann das Auto einer Frau geortet und so das Frauenhaus gefunden. „Wie man heute Frauen überwachen kann, das war früher nicht möglich“, sagt Tanış.
Winter versteckte sich bei Freunden und in mehreren Frauenhäusern. Doch egal, wohin sie mit ihrer jüngsten Tochter floh – er fand sie. Als Winter darauf kam, dass ihr Handy sie verriet, wohnte sie bereits im dritten Frauenhaus. Dort habe eine Mitarbeiterin ihr geholfen, ein neues Handy und neue Accounts einzurichten. Seither ist Winter online nur noch unter Pseudonym zu finden.
Auch die Frauenhäuser müssen sich schützen. Tanış berichtet von einem Fall, in dem der Ex-Mann einer ehemaligen Bewohnerin die Adresse des Frauenhauses ins Netz gestellt habe. Von einer Mitarbeiterin habe er Fotos gemacht und sie öffentlich verunglimpft. In Tanış Haus gibt es nun regelmäßig Fortbildungen zu Digitalthemen. Ausreichend Unterstützung von der Bundesregierung gebe es aber dafür nicht. „Wir wären ja froh, wenn wir überhaupt vollständig finanziert würden“, sagt sie.
Kein Geld für Digitalexpert*innen
Seit Jahren kämpfen Frauenhäuser ums Geld. Die Finanzierung läuft überall anders. Das einzige Bundesland, das die Kosten trägt, ist Schleswig-Holstein. In der Regel wird der Aufenthalt im Frauenhaus über die Sozialleistungen der Betroffenen gedeckt. Doch wer keinen Anspruch darauf hat, muss selbst zahlen – das sind etwa Gutverdienende, Studierende oder manche EU-Ausländer*innen. 2023 betraf das laut aktueller Frauenhausstatistik 28 Prozent derjenigen, die ein Frauenhaus aufsuchten. Oft versuchen die Frauenhäuser dann mit eigenen Mitteln auszuhelfen.
„An Geld hat es im Hilfesystem auch schon gemangelt, bevor die digitale Gewalt kam“, sagt Ophélie Ivombo vom Verband Frauenhauskoordinierung. Sich nun auch mit digitaler Gewalt zu beschäftigen, erfordere zusätzlichen Aufwand. „Es braucht mehr Ressourcen in den Frauenhäusern und Beratungsstellen“, fordert Ivombo. „Digitale Gewalt ist eine Zusatzaufgabe, die on top auf ein unterfinanziertes System trifft“, sagt auch Elizabeth Ávila González. Sie arbeitet für den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt (bff) zu digitaler Gewalt. „Beraterinnen und Frauenhausmitarbeiterinnen sind Expertinnen im Sozialen“, sagt Ávila González. Fortbilden könnten sie sich nur, wenn es finanzielle und zeitliche Kapazitäten gebe. „Das führt zu Unterversorgung.“
Fehlende Mehrheiten beim Gewalthilfegesetz
Die ehemalige Ampelregierung hatte versprochen, das Problem anzugehen. Zwei Gesetze sollten das Hilfesystem für die von sexualisierter und Partnerschaftsgewalt Betroffenen stärken: ein Gesetz gegen digitale Gewalt und das sogenannte Gewalthilfegesetz. Ersteres ist gescheitert. Es bleibt nicht mehr genug Zeit, um es bis zur Neuwahl noch umzusetzen. Bessere Chancen hat das Gewalthilfegesetz. Es soll Frauenhäuser und Beratungsstellen auf ein stabileres finanzielles Fundament stellen. Jede Betroffene soll zudem Anspruch auf kostenfreie Beratung und Schutz haben.
Über diesen Gesetzentwurf könnte der Bundestag in der aktuellen Sitzungswoche abstimmen. Das Problem ist: Dafür müsste er auch auf die Tagesordnung kommen. Aktuell verhandeln Grüne und SPD aber noch mit der Union über einen Kompromiss. Denn seit dem Ampelbruch muss sich Rot-Grün neue Mehrheiten organisieren. Über die Verhandlungen habe man Stillschweigen vereinbart, hieß es auf Nachfrage. Auch wann mit einem Ergebnis zu rechnen ist, blieb unbeantwortet.
Im November 2024 hatte die Union bereits einen eigenen Antrag eingebracht, der dem Entwurf von Rot-Grün in großen Teilen ähnelt. Schwierig könnte es bei folgenden Punkten werden: Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz hatte Anfang Dezember in Ergänzung zum Regierungsentwurf elektronische Fußfesseln für Täter gefordert; ebenso, dass keine trans Frauen in Frauenhäuser aufgenommen werden dürften. Die Frauenhauskoordinierung hatte in den letzten Jahren wiederholt betont, dass Frauenhäuser auch trans Frauen schützen.
Am Donnerstag übergaben der Deutsche Frauenrat und UN Women Deutschland ein Papier mit etwa 100.000 Unterschriften an Silvia Breher, die frauenpolitische Sprecherin der Union. In dem Papier forderten sie, das Gewalthilfegesetz so schnell wie möglich zu verabschieden.
Eines betonen alle Expertinnen, mit denen die taz gesprochen hat: Es geht ums Geld. Hätten alle Frauenhäuser und Beratungsstellen ausreichend davon, könnten sie Digitalexpert*innen beschäftigen und Personal weiterbilden. Dann hätte Winters Ex-Partner sie wohl nicht aufspüren können. Ihr Glück war, dass das dritte Haus eine Digitalexpertin hatte. Winter lernte mit ihr, sich sicherer im Internet zu bewegen, aber auch Grundsätzliches, etwa Programme zu installieren. Um alles, was mit Technik zu tun hat, kümmerte sich früher ihr Ex-Partner.
Ophélie Ivombo, Verband Frauenhauskoordinierung
Ávila González vom bff kennt das Problem. Der ungleiche Zugang zu Technik sei nach wie vor ein gesellschaftlicher Missstand. Es brauche „egalitäre Medienbildung“, also gleiche Digitalkompetenz für alle. Gleichzeitig müssten sich auch Polizei und Justiz fortbilden. Denn, sagt Ávila González, „oft wird die Schuld nach wie vor bei Betroffenen gesucht. Es muss ein Verständnis geben, dass es heute normal ist, dass man sich Nacktbilder oder Ähnliches schickt. Und dass sie nur im Konsens veröffentlicht werden dürfen.“
Digitale Gewalt kann gravierende Folgen haben. Betroffene entwickeln teils Depressionen oder leiden unter Schlafstörungen. „Wenn Videos und Fotos einmal online stehen, dann gibt es kein Ende“, sagt Ávila González. So könne eine „bleibende Betroffenheit“ entstehen. „Digitale Gewalt hört nicht auf.“
Lara Winter hat das zu spüren bekommen. Die Aufnahmen, die ihr Ex-Partner an ihr Umfeld schickte, zeigten nur ihr Schlimmstes. Er schnitt sie so zusammen, dass nicht zu hören war, wie er drohte oder Lampen zerschlug und Gardinen zerriss. Nur Winter war zu hören. „Die ersten drei Monate hat mir niemand geglaubt“, erinnert sich Winter. Auch ihren Kindern spielte er die Aufnahmen vor. Für Winter ist heute klar: „Das war das Schlimmste, was er mir angetan hat. Er wollte alles kaputt machen zwischen mir und meiner Familie.“ Lara Winter ist online vorsichtiger geworden. Sie postet kaum. Ihre Accounts hat sie alle auf privat gestellt. Mit ihrer jüngsten Tochter wohnt sie allein in einer Wohnung und hofft, dass auch die älteren beiden Kinder irgendwann den Vater verlassen. Seit Kurzem merkten sie, sagt Winter, dass der Vater auch sie überwache.
* Name geändert
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