Getötete Jüdin in Israel: Vier Plastiktüten, ein Leben
Eine rumänisch-israelische Frau überlebt den Holocaust, stirbt aber nahe Tel Aviv durch eine iranische Rakete. Ein Besuch zwischen Trümmern und Hoffnung.
Es ist die Beerdigung von Yvette Shmilovitz, einer 95-jährigen rumänisch-israelischen Frau, die den Holocaust überlebte, doch nicht die iranischen Raketen. Shmilovitz starb am 16. Juni in Petach Tikva, gut zehn Kilometer östlich von Tel Aviv. Eine Woche haben die israelischen Gerichtsmediziner*innen gebraucht, um die sterblichen Überreste zu identifizieren. Am Dienstag, acht Tage nach ihrem Tod, haben sich Shmilovitz’ Angehörige und Bekannte auf dem Friedhof Segula versammelt, um der Holocaust-Überlebenden die letzte Ehre zu erweisen. Ihrer Freundin, ihrer Oma. So wie Dana Suflet Master und ihre Schwester Shirly Hout Master. Beide sind Shmilovitz’ Enkelinnen.
Am 16. Juni schoss Iran in der Nacht eine Salve von Raketen in Richtung Israel. Ein Marschflugkörper flog an Israels Luftabwehrraketen vorbei und schlug in Shmilovitz’ Haus ein, zwischen der fünften und vierten Etage. Laut einem Bericht des israelischen Senders KAN befanden sich in dem 20-stöckigen Gebäude zwei Bataillon-Verwaltungssitze. Die israelische Armee äußerte sich nicht auf Nachfrage.
Die Verwüstungen im Hochhaus sind auch jetzt, eine Woche später, noch sichtbar. In der fünften Etage, auf der Shmilovitz wohnte, sind zwei Zimmer in der rechten Ecke durch die Explosion freigelegt worden, die tragenden Wände liegen nackt da, die inneren Metalldrähte des Stahlbetons zu Knäueln gewunden. An der Ecke des Hauses hat jemand eine israelische Flagge aufgehängt.
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Ein Geruch von Zement und Trümmern
Mitte Juni hatte Israel Iran überraschend angegriffen, Atomanlagen, Wohnungen von Generälen und Atomwissenschaftlern bombardiert. Erklärtes Ziel war es, Iran am Bau einer Atombombe zu hindern. Zwölf Tage lang beschossen sich die Staaten gegenseitig. In Israel flüchteten Menschen in Bunker und Schutzräume, in Iran beteten die Menschen und schauten in den Himmel.
In Shirly Hout Masters Wohnung haben sich zwei Tage nach der Beerdigung Freunde und Verwandte versammelt, um der Verstorbenen zu gedenken, Trost zu spenden. Auf dem Tisch liegen Kuchen, Weintrauben, Gebäck, daneben steht eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee. Enkelin Dana Suflet Master trägt eine pinke Plastiktüte in den Raum. Drinnen: eine Ledertasche, ausgeblichen von Staub und Schutt, Familienbilder, Einkaufszettel, eine Einkaufstasche, ein beigefarbener Mantel und eine Packung Tabletten. Als sie einen Gegenstand nach dem anderen hervorholt, breitet sich ein Geruch von Zement und Trümmern im Raum aus. Vier Plastiktüten sind es insgesamt, was vom Leben ihrer Oma übrigbleibt.
Die Tabletten sind Schlafpillen, eine fehlt. Das gibt den Enkelinnen Hoffnung. Dass Shmilovitz sie eingenommen und das Hörgerät vor dem Schlafengehen abgenommen hat. Dass sie deswegen die heulenden Sirenen nicht hörte und friedlich entschlafen ist, ohne Angst. Bei einem solchen Einschlag hätte selbst der Schutzraum kaum einen Unterschied gemacht. „Sie sagte immer: Ich bin alt und habe mein Leben gelebt. Junge Menschen müssen sich auf ihr Leben fokussieren. Dass sie so gestorben ist, ist ein Symbol dafür. Ich möchte denken, dass sie damit vielleicht andere, junge Familien vor diesem Schicksal bewahrt hat“, sagt Shirly Hout Master. So geben die Enkelinnen dem Tod ihrer Großmutter einen Sinn.
Shirly Hout Master sitzt in Schwarz gekleidet auf der Terrasse ihrer Wohnung. Es ist ein schöner Sommertag. Am Tag des Angriffs hatte sie ihrer Großmutter wie immer geschrieben, ob alles gut gegangen sei. Diesmal kam keine Antwort zurück. „Du hörst von so etwas, denkst aber nie, dass es dir passieren wird.“
Ihre Schwester wohnt in der Nähe des getroffenen Gebäudes. „Wir hörten die Explosion, mein Gott, es war so nah. Die Wohnung bebte.“ Als es zu Ende war, sah sie, wie sich der Himmel rot gefärbt hatte. Eine Freundin, die im Gebäude ihrer Großmutter lebt, rief sie an. „Komm schnell, komm schnell, unser Haus wurde getroffen.“
Dana Suflet Master rannte, versuchte sich einen Weg zu bahnen zwischen dem Rauch und den Einsatzkräften. Als sie vor dem Hochhaus stand, zählte sie die beschädigten Etagen: eins, zwei, drei, vier, fünf. Und dann noch mal. Und noch mal. „Vielleicht hatte ich mich verrechnet. Doch es kam immer dieselbe Zahl raus.“ Wie eine zweite Mama sei Shmilovitz für sie gewesen. Ihre eigene Mutter, Shmilovitz’ einzige Tochter, starb bereits vor 24 Jahren.
Ihre letzte Erinnerung an sie, sagt Dana Suflet Master, ist die von einer heiteren Frau. Klug, freimütig, unabhängig, durstig nach Wissen selbst mit ihren 95 Jahren. Fünf Sprachen habe sie beherrscht, einige davon habe sie sich selbst beigebracht. Europa liebte sie, sowie seine Kultur. Und die Reisen. Viele Reisen, die sie und ihre Familie in den Jahren unternommen haben.

„Sie und mein Opa sind überall gewesen, als mein Opa noch lebte. Opa fuhr und sie saß auf dem Beifahrersitz mit der Karte in der Hand“, erinnert sich Shirly Hout Master. „Ich bin mir sicher, als meine Oma ihren letzten Atem tat, wartete mein Opa schon auf sie in einem Audi, mit offener Tür. Ich hoffe sie reisen jetzt weiter zusammen.“
Super-Savta, Super-Oma, habe Shirly Hout Master sie genannt. Denn sie konnte nie richtig verstehen, mit welcher Kraft sie alles Böse, was ihr widerfahren war, einfach hinnehmen und weglächeln konnte. Als Kind, mit zehn, elf Jahren, landete Shmilovitz während der Nazizeit mit ihren Eltern in einem rumänischen Zwangsarbeitslager. Über die Zeit dort habe sie danach kaum geredet. Vielleicht war sie zu jung, um zu begreifen. Vielleicht wollte sie sich nicht an das Grauen erinnern.
Nach 1945 lebte sie in Bukarest, verliebte sich, bekam eine Tochter. Eine Zwillingsschwester hatte sie, die dann für ihr Medizinstudium nach Deutschland zog. In Rumänien erlebte die Familie Antisemitismus, doch eine gewisse Sehnsucht nach dem Heimatkontinent blieb trotzdem in Shmilovitz’ Leben.
In Israel fühlte sich die Holocaust-Überlebende sicher, auch wenn sie als passionierte Globetrotterin am liebsten nach New York gezogen wäre. Stattdessen kam Shmilovitz während des Yom-Kippur-Kriegs zuerst in eine Kleinstadt an der israelischen Küste, dann nach Petach Tikva, arbeitete hier als Chemikerin in einem Krankenhaus und richtete sich ein neues Zuhause ein.
Dana Suflet Master, Enkelin der Getöteten, wohnt in der Nähe des Hauses, das von einer iranischer Rakete getroffen wurde
Trotz des Verlustes sieht Shirly Hout Master den Angriff auf Iran als notwendig an. „Wir kämpfen und tun das für den Rest der Welt. Vielleicht wird es sich lohnen und unsere Kinder werden an einem besseren Ort aufwachsen.“ Wie viele Menschen in Israel sehen sie den Krieg als Kampf zwischen Gut und Böse. Laut einer Umfrage unterstützen 83 Prozent der jüdischen Israelis den Angriff auf Iran. Obwohl gar nicht eindeutig belegt ist, dass Iran tatsächlich an einer Atombombe arbeitete, fühlen sich dennoch viele Israelis von Iran existenziell bedroht. Teils mag das das Ergebnis von Irans aggressiver Rhetorik sein, teils von israelischer Propaganda.
Es ist schon fast 13 Uhr im Friedhof Segula. Unter der sengenden Sonne schieben jetzt zwei Rabbiner in weißem Hemd und schwarzer Hose die Trage mit Shmilovitz' Leichnamdurch die scheinbar endlosen Straßen des Friedhofs, an denen sich hunderte Grabsteine aneinanderreihen. Hinter ihnen laufen Shmilovitz' Freund*innen und Angehörige. Vorbei an den bunten Gräbern von Soldat*innen, die in den vielen Kriegen gestorben sind, an Gräbern von Menschen, die wie Shmilovitz den Holocaust überlebt haben.
Bis hin zu Shmilovitz' letzter Ruhestätte. Die Rabbiner lassen ihren eingehüllten Körper behutsam in das Grab gleiten, dann verschließen sie das Loch und verschütten darauf Erde. Anschließend greifen die Enkelinnen zu den Schaufeln und füllen die heilige Erde weiter auf. So sieht es die jüdische Tradition vor. Der Rabbiner singt rituelle Lieder, adonai, Gott, ertönt immer wieder auf dem verwaisten Friedhof.
Enkelin Suflet Master schaut zur Seite, ins Leere, an den Grabstein gelehnt, das Kinn auf die Hand gestützt. Ein trauriger Blick, hin zu den Reihen von Gräbern und weiter zu den Hochhäusern, die Tel Avivs Silhouette prägen. Kampfjets fliegen tief über dem Friedhof, dröhnen in der Entfernung. Die Waffenruhe zwischen Israel und Iran hat gerade begonnen.
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