Gesundheitsökonom über Coronakrise: „Auf schwere Fälle konzentrieren“
Das deutsche Gesundheitssystem kommt in der Pandemie an seine Grenzen. Gesundheitsökonom Jonas Schreyögg dazu, warum das keine Frage des Geldes ist.
taz: Herr Schreyögg, Die Politik begründet die Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens in der Coronakrise damit, dass nur so die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden sei. Man müsse Rücksicht auf die begrenzte Anzahl der Intensivbetten in Krankenhäusern nehmen. Halten Sie diese Begründung für plausibel?
Jonas Schreyögg: Sicherlich. Wenn die Zahl der Corona-Infizierten exponentiell steigt, sich also in kurzen Zeiträumen verdoppelt, kann das medizinische System an seine Grenzen stoßen. Darüber hinaus ist aber ein wichtiger Grund, dass derzeit zu viele Menschen sterben. Die Kontakteinschränkungen sollen dies verhindern.
Die hiesigen Krankhäuser verfügen über rund 34.000 Intensivbetten. Bisher waren aber höchstens 5.700 Coronakranke bundesweit gleichzeitig in intensiver Behandlung. Wieso bringt diese überschaubare Patientenzahl das ganze System an seine Grenze?
Schon um die normalen Krankheiten zu behandeln, braucht man viele Intensivbetten. Wenn dann noch zahlreiche Coronakranke dazukommen, besteht die Gefahr, dass Personal, Geräte und Räume nicht mehr ausreichen. Dann können eventuell auch Kranke mit Krebs oder Herzinfarkt nicht angemessen versorgt werden. Allerdings haben wir den entscheidenden Engpass nicht bei der Zahl der Betten, sondern der Pflegekräfte.
Wieviele Pflegerinnen und Pfleger stehen in hiesigen Krankenhäusern zur Verfügung?
In der Intensivmedizin soll sich ab Februar eine Pflegekraft tagsüber höchstens um zwei Patient:innen kümmern müssen, nachts um drei. Das hat das Bundesgesundheitsministerium in einer Verordnung festgelegt. Eine Reihe von Krankenhäusern erreichen diese Untergrenze jedoch noch nicht. Aber sie müssen durch diese Regulierung alles tun, um sie bald einzuhalten.
Warum gibt es in Deutschland statt 34.000 nicht 100.000 Intensivbetten mit ausreichendem Personal?
ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der die Bundesregierung berät.
Wir können die Bettenzahl nicht einfach steigern. Dafür fehlen die Pflegekräfte. Deren Zahl lässt sich nicht schnell anheben. Denn auf dem Arbeitsmarkt gibt es die Leute nicht. Wir müssten sie erst ausbilden. Aber selbst das ist leichter gesagt, als getan.
Die augenblickliche Intensivmedizin kostet rund drei Milliarden Euro pro Jahr, weniger als ein Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben. Liegt es am Geld?
Die Kosten sind nicht der Punkt. Die Kassen vergüten den Krankenhäusern die höheren Ausgaben, um die Personaluntergrenze zu erreichen.
Schaffen andere wohlhabende Länder eine bessere Ausstattung, etwa Norwegen, Finnland oder die Schweiz?
Italien, Frankreich, die Schweiz und Skandinavien haben mehr Pflegepersonal pro Intensivbett als wir. Allerdings unterscheidet sich unsere Krankenhausstruktur beispielsweise stark von der norwegischen. Dort finden mehr Operationen in ambulanten Einrichtungen statt als bei uns, nur die schweren Fälle kommen ins Krankenhaus. Deswegen ist in Norwegen mehr Personal pro Bett nötig. Gerade bei Skandinavien muss man bei Vergleichen sehr genau hinschauen.
Was halten Sie von der These: In der Coronapandemie würden mehr Intensivbetten mit ausreichendem Personal weniger Einschränkungen des öffentlichen Lebens ermöglichen?
Die teile ich nicht. Sie müssen die hohe Mortalität berücksichtigen, die wir zur Zeit haben. An manchen Tagen sterben um die 1.000 Menschen an oder mit Corona. Weniger Einschränkungen und mehr Kontakte würden die Zahl der Infizierten weiter steigen lassen, weshalb noch mehr Kranke auf die Intensivstationen kämen. Die zahlreichen Todesfälle haben nichts mit mangelnder Infrastruktur oder fehlendem Personal zu tun. Sondern damit, dass wir noch keine wirksamen Medikamente gegen Corona haben. Ihre These stimmt auch deshalb nicht, weil wir das fehlende Personal nicht herbeizaubern können.
Warum ist es denn so kompliziert, mehr Krankenpflegerinnen und Pfleger einzustellen?
Der wesentliche Grund liegt in der zunehmenden Knappheit an Beschäftigten auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre gehen nun zunehmend in Rente, darunter auch die älteren Pfleger:innen. Die frei werdenden Stellen zu füllen, wird immer schwieriger. Arbeit im Krankenhaus steht in Konkurrenz zu anderen Beschäftigungen.
Was empfehlen Sie für die Zukunft?
Pro Einwohner gesehen ist Deutschland ähnlich gut mit Pflegepersonal ausgestattet wie andere Länder. Allerdings werden die Kräfte hierzulande auf sehr viele Fachabteilungen und Betten verteilt. Die langfristige Aufgabe besteht darin, weniger Patient:innen stationär und mehr ambulant zu behandeln. Dadurch können in den Häusern Ressourcen frei werden. Sie sollten ihr Personal auf die schweren Fälle konzentrieren. Das bedeutet auch mehr Personal pro Intensivbett.
Sollte die Bezahlung der Pfleger:innen und Pfleger deutlich steigen?
Das ist ein wichtiger Hebel, wenn auch bei Weitem nicht der einzige. Helfen kann außerdem, den Status der Pflege zu verbessern, etwa durch akademische Abschlüsse. Und das Arbeitsumfeld muss attraktiver werden. Die Pfleger:innen wollen sich nicht um fünf Intensivfälle gleichzeitig kümmern müssen.
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