Gestohlene Judaica: Die Spur des Sabbatleuchters
Wie erforscht man die Herkunft jüdischer Kulturgüter? Eine Fachtagung in Berlin unternahm den Versuch, Museumsmitarbeiter zu schulen.
Etwa 20 Museumsmitarbeiter sitzen an zwei Tischen und brüten über einem Haufen Papier. Die Münchner Provenienzforscherin Carolin Lange hat ihnen den Stapel Kopien und ein paar Literaturhinweise zukommen lassen. Jetzt sollen sie in 30 Minuten ein Rätsel lösen: Waren zwei Gemälde von Picasso und Chagall im rechtmäßigen Besitz des Kunstsammlers Hildebrand Gurlittt? Oder sind die Bilder Raubgut, das französischen Juden von den Nazis gestohlen wurde?
Die gelehrigen Schüler von Lange blättern sich durch Dokumente des US-Nationalarchivs, lesen einen Lebenslauf Gurlitts, in dem sich dieser zum Wiederstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten stilisiert, und studieren Fachliteratur. Sollte Gurlitt wirklich mit seiner schriftlich untermauerten Behauptung Recht haben, er habe die Bilder von dem Schweizer Maler Karl Balmer 1943 als Geschenk erhalten?
Die Praxisübung ist Teil eines gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin und dem Centrum Judaicum veranstalteten Fachsymposiums zur Erforschung der Herkunft von Kunstgegenständen. Eigentlich geht dabei nicht um berühmte Maler, sondern um Judaica, jüdische oder vermeintlich jüdische Kultgegenstände vom Sabbatleuchter bis zur Torarolle. Zielpublikum der Veranstaltung sind Mitarbeiter von Museen, besonders von regionalen Institutionen, und keineswegs nur auf Judaica spezialisierte Sammlungen.
Dass Raubkunst ein großes Problem internationaler Dimension ist, hat sich längst herumgesprochen. Prominente Restitutionsverfahren um berühmte Gemälde haben deutlich gemacht, dass sich immer noch tausende gestohlene Kunstwerke in Privat- und Museumshand befinden. Das gilt auch für Judaica, auch wenn der Fall etwas anders gelagert ist.
Sabbatleuchter oder profaner Leuchter?
Denn viele Leuchter, Gewürzdosen oder Kidduschbecher schlummern zwar noch unerkannt in Sammlungen. Doch, wie die Kuratorin Michal Friedlander vom Berliner Jüdischen Museum deutlich macht, unterscheiden sich diese Gegenstände in mindestens zwei Aspekten deutlich von berühmten Werken der bildenden Kunst: Es handelt sich häufig um Alltagsgegenstände, zwar aus Silber hergestellt, aber doch Massenware, die bisweilen bis heute produziert wird. Und es ist keineswegs immer festzustellen, ob ein Sabbatleuchter wirklich ein Sabbatleuchter ist, oder nicht einfach ein profaner Leuchter.
20 Tonnen Silbergegenstände beschlagnahmten die Nazis nach der Pogromnacht 1938 allein von Hamburger Juden. Zwei Tonnen davon überstanden – da nicht eingeschmolzen – die NS-Zeit, insgesamt 3.000 Objekte, die 1960 an Hamburger Museen verteilt wurden. Wie soll man erkennen, wem sie einmal gehört haben? Die Angelegenheit ist ähnlich verzwickt wie bei jüdischen antiquarischen Büchern, in denen der Besitzer keinen Namen und keinen Hinweis hinterlassen hat. In vielen Fällen bleibt eine Restitution unmöglich.
Dennoch, so der Tenor der Tagung, sind die Museen dazu aufgefordert, die Herkunft ihrer Judaica-Bestände unter die Lupe zu nehmen. Wichtige Hinweise können schon der Zeitpunkt des Ankaufs oder der Schenkung, der Zustand der Ware und der Verkäufer oder Spender ergeben. Ziel sei es, sagt die Provenienzforscherin Anna-Carolin Augustin, den Gegenständen eine Vita zu geben und möglichst auszuschließen, dass diese Raubkunst sind.
Augustin untersucht seit einem Jahr die Sammlung Zwi Sofer im Jüdischen Museum Berlin – etwa 300 Judaica-Objekte unterschiedlichster Provenienz. Zusammengetragen wurden sie von dem jüdischen Sammler gleichen Namens nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein erster Überblick ergab keinerlei Hinweise auf die Herkunft all der Gewürzdosen, Glasobjekte und Leuchter. Bei rund zwei Dritteln der Sammlung handelt es sich um nicht identifizierbare Massenware, so Augustin. „Die klassischen Methoden der Provenienzforschung liefen damit ins Leere“, sagt sie.
Die Geschichte der Objekte erzählen zu können
Also begann Augustin nachzuforschen: Wo hat der 1980 verstorbene Zwi Sofer sein Leben verbracht? Sie stieß auf Briefe, Devisenakten – und auf eine Sammlung von Visitenkarten. Mithilfe dieser Papiere gelang es, Näheres über die Judaica-Sammlung zu erfahren. Inzwischen steht fest: 40 der Objekte können als „nicht belastet“ eingestuft werden, bei 20 konnte der Vorbesitzer identifiziert werden. Und bisher fand sich kein Fall von Raubkunst.
Augustins Ziel ist es, dem Besucher nicht nur die Objekte zu präsentieren, sondern auch deren Geschichte zu erzählen. Das kann schriftlich erfolgen, mit Audioguides oder mit anderen technischen Hilfsmitteln, erzählt sie. Es gehe darum, „Transparenz herzustellen“.
Michal Friedlander berichtet aus der Praxis des Ankaufs. Einmal bekam das Jüdische Museum Berlin einen siebenarmigen Leuchter von einem Priester angeboten, der erzählte, Bekannte hätten diesen zur Aufbewahrung von benachbarten Juden erhalten, die in der NS-Zeit deportiert wurden. Die Geschichte könnte stimmen. Doch Friedlander verzichtete auf den Leuchter, weil nicht herauszufinden war, wer der frühere Besitzer gewesen sein könnte.
Sie fragt, was es bedeutet, wenn deutsche Bürger Judaica an ein jüdisches Museum übereignen möchten. „Handelt es sich um eine Art Wiedergutmachung“, womöglich für das, was die Urgroßeltern in der Nazi-Zeit getrieben haben? Ist es eine späte Folge von Scham und Wegschauen? Und ist ein Chanukkaleuchter eigentlich jüdischer als ein Teekessel, der einmal von Juden benutzt worden ist?
Kunstvolle Fälschungen mit möglichst vielen Davidsternen
Judaica, das ist auch ein riesengroßer Markt, wo mit Gewürzdosen aus dem 17. Jahrhundert Spitzenpreise zu erzielen sind. Bei einem Workshop präsentiert Friedlander kunstvolle Fälschungen, mit möglichst vielen angepappten Davidsternen als Beweis für die angeblich jüdische Herkunft. Sie warnt vor Angeboten im Internet und vor Objekten, die man angeblich gerade eben erst auf einen Dachboden gefunden hat.
Friedlander erwartet für die Zukunft, dass deutschen Museen mehr Judaica aus Privatbesitz angeboten wird. Es gebe ein neues Bewusstsein im Land. Zugleich frage sie sich aber auch, ob diese Gegenstände nicht besser in nichtjüdische als jüdische Sammlungen gehörten, schließlich seien sie auch Teil der deutschen Geschichte.
Zur besseren Provenienzforschung, so ein Fazit, ist eine stärkere Vernetzung der Forscher und eine engere Kooperation mit israelischen Einrichtungen notwendig. Schließlich scheitern viele Mitarbeiter deutscher Museen schon an den hebräischen Schriftzeichen, die sie nicht zu deuten verstehen.
Und der Workshop mit den Gemälden von Chagall und Picasso? Die Lernenden sind auf die richtige Spur gestoßen: Die Werke tauchen in einem Inventarverzeichnis Gurlitts auf, in dem angegeben wird, er habe diese 1942 in Frankreich gekauft – von wegen Schenkung. Den letzten Beweis aber liefert Provenienzforscherin Carolin Lange selbst ab: Sie hat nachgewiesen, dass das Dokument, mit dem der Maler Karl Balmer angeblich die Schenkung bestätigt, und ein Brief aus dem Hause Gurlitt mit derselben Schreibmaschine geschrieben wurden.
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