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Gespräch über die ostdeutsche Provinz„Wir brauchen eine Herzensbildung“

Als Ethnografin erforscht Juliane Stückrad Orte und Gemeinschaften, auch in ihrer Heimat Thüringen. Ein Gespräch über Mut und Unmut in Ostdeutschland.

Die Wissenschaftlerin Juliane Stückrad Foto: Roger Hagmann
Sabine Seifert
Interview von Sabine Seifert

Die Regierungskrise in Thüringen wurde noch vor Corona gelöst, doch die Probleme, die dadurch zutage getreten sind, werden sich auch nach der akuten Pandemiephase nicht erledigt haben. Als Volkskundlerin versucht Ju­liane Stückrad sich Einblick in das Denken und Leben aller zu verschaffen, aus der Position einer Lernenden, wie sie es nennt – eine Herangehensweise, die sie auch Politiker*innen ans Herz legt. Als Treffpunkt für das Gespräch, das noch vor dem Lockdown stattgefunden hat, wählte Juliane Stückrad das Eisenacher Theater. Nun fürchtet sie, dass alles, was dort in den letzten Jahren erreicht wurde, wieder zur Debatte steht.

taz am wochenende: Frau Stückrad, wir sitzen im Foyer des Eisenacher Theaters. Den Ort haben Sie vorgeschlagen. Steht das Theater eher für den kulturellen Reichtum Thüringens oder seine Schrumpfung?

Juliane Stückrad: Eindeutig für den kulturellen Reichtum. Und dieser Reichtum ist nicht verloren, wir verteidigen ihn. Unser Theater – ich bin Vorsitzende des Fördervereins – hatte einst alle Sparten: Oper, Ballett, Schauspiel, dazu die Landeskapelle Eisenach. Dann gab es Kooperationen und Fusionen mit Rudolstadt, Meiningen und Gotha. Mit jeder Anpassung wurde uns gesagt: Wenn ihr das jetzt abwickelt, dann bleibt das Theater zukunftsfähig. Wir haben das alles mitgemacht und bestehen jetzt auf dieser Zukunft. Es gab furchtbare Spardiskussionen und trotzdem tolle Premieren. Es hält durch, es ist ein tapferes Theater!

Ist das ein Grundgefühl, das sich auf Thüringen übertragen lässt?

Das Leben spielt sich da ab, wo die Menschen leben. Und von dort aus bewerten sie das Funktionieren dieses Systems. Die meisten Kommunen stehen unter enormem Druck. Wir befinden uns nach wie vor in der Transformation. Anfang der Neunziger hatte man vielleicht noch die Vorstellung, so zu werden wie die Bundesrepublik. Dieses Ziel ist zum großen Teil erreicht, wird aber parallel von dem Gefühl beherrscht, was erreicht ist, könnte auch wieder weg sein. Eine Stabilität ist nie eingetreten.

Gehen die Probleme, die in der Thüringer Regierungskrise kulminiert sind, noch auf die Zeit vor der Wende zurück?

Es sind vor allem Probleme der Transformation. Viele Leute haben sich nie wirklich heimisch gefühlt im neuen System. Weil es zu komplex war und alles zu schnell ging. Sie hatten immer eine Distanz, auch zur DDR, und dieses distanzierte Verhältnis zum Staat ist geblieben. Dabei sollten wir auch bedenken, dass die Bevölkerung der DDR keineswegs so homogen war, wie manche heute glauben.

Und im Zuge der Transformation ist davon vieles offenbar geworden?

Ich merke es oft in Dörfern, da hat zum Beispiel die Kirchgemeinde Probleme mit dem Heimatverein, weil dort angeblich die „ehemaligen Roten“ mitmachen. Gerade in den kleineren Strukturen weiß man noch sehr gut, wer wann welche Stellung hatte in der DDR und wer davon profitiert hat. Genauso wissen sie, wer von der Transformation profitiert hat, welche Seilschaften da entstanden sind. Das sind alles Dinge, die unausgesprochen sind, aber die Kommunikation bis heute bestimmen.

Warum hat die Ost-CDU immer noch so starke Vorbehalte gegen die Linken? Auch in der SPD gibt es die. Können Sie das nachvollziehen?

Bild: Roger Hagmann
Im Interview: Juliane Stückrad

Juliane Stückrad, 1975 in Eisenach geboren, ist selbstständige Ethnografin und arbeitet als Lehrbeauftragte am Seminar für Volkskunde/Empirische Kultur­wissenschaften der Uni Jena. Sie sitzt für die SPD im Eisenacher Stadtrat. Demnächst erscheint „Die Perspektive der Stadt ist ja eigentlich die Perspektive der Menschen“, Juliane Stückrads ethnografische Studie über die ostthüringische Kleinstadt Gößnitz. Sie wird herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen.

Es ist nach wie vor ungeklärt, wie man mit der DDR-Geschichte, mit dieser Diktatur umgeht. Ich habe da auch kein Patentrezept. Als Ethnografin muss ich mir ja Zugang zu den Herzen aller verschaffen. Damit die Leute mit mir reden, gehe ich als Lernende in die Kleinstädte und Dörfer, in denen ich forsche. Vielleicht würde dies auch in der Politik weiterhelfen: also zugewandt und als Lernende und eben nicht als Belehrende zu den Leuten gehen.

In diesen Tagen kommt Ihre Studie über die Kleinstadt Gößnitz heraus. Wie kamen Sie auf Gößnitz?

Durch einen Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Stimmungslage im ländlichen Raum Ostthüringens. Kleinstädte sind in der Forschung unterrepräsentiert und haben durch die Transformation besonders zu kämpfen. An Gößnitz fand ich interessant, dass diese kleine Stadt mit weniger als 4.000 Einwohnern ein Kabarett hat. Also recherchierte ich im Internet und stellte zudem fest, dass sich der Ort erfolgreich gegen die Eingemeindung in die Nachbargemeinde Schmölln gewehrt hat. Das wollte ich mir genauer anschauen.

Wie nähert sich die Volkskundlerin einem solchen Ort?

Ich recherchiere zunächst im Internet, dann schaue ich nach Schlüsselpersonen, die ich treffen kann: den Bürgermeister, den Pfarrer. Wenn ich dann im Forschungsfeld bin, nehme ich „Wahrnehmungsspaziergänge“ auf, so nenne ich das. In einem kleinen Ort fällt das auf, wenn jemand spazieren geht und sich alles genau anschaut. Oft komme ich dann spontan ins Gespräch mit den Menschen. Die besten Geschichten ergeben sich durch Zufall. Ich arbeite inzwischen fast ausschließlich mit Gedächtnisprotokollen, denn ohne Aufnahmegerät erzählen die Leute mehr.

Das läuft im Journalismus nicht viel anders.

Was ich als Allererstes mache: über den Friedhof gehen. Gibt es Namenshäufungen? Kriegsgräber? Religiöse Zeichen? So begreift man die historische Dimension besser: Gibt es Traumata in einer Stadt? Zudem ist die Heimatstube, sofern es vor Ort eine gibt, ein toller Zugang zum Forschungsfeld.

Wie war Ihr erster Eindruck von Gößnitz?

Schön gelegen, aber von einem morbiden Charme. Die alte, verfallene Malzfabrik thront wie eine Burg über der Pleiße – als Symbol des Niedergangs der Industrie. Dazu ist die ganze Textil­industrie in der Region weggebrochen. Das ist eben auch Thüringen. Es gibt nicht nur Weimar und die Wartburg. Kleinstädte wie Gößnitz unterscheiden sich bald kaum mehr von Dörfern, haben aber eine städtische Identität, die es zu verteidigen gilt.

Und gelingt es den Gößnitzern?

Ich habe viel dort gelernt. Was dieses städtische Bewusstsein zusammenhält, ist wirklich die Kultur. Und die wird von den Leuten selbst getragen. Das sind die privaten Initiativen, die Vereine, weil die Stadt gar kein Geld mehr hat, um in Kultur zu investieren.

Sind in Thüringen Probleme anders gelagert als in Sachsen oder in ­Sachsen-Anhalt?

Die Probleme, die aus der DDR-Zeit rühren, sind die gleichen. Aber die Lösungsstrategien sind lokal sehr unterschiedlich. Thüringen ist ein durch seine Geschichte vielfältig zusammengesetztes Bundesland.

Sind das regionale Befindlichkeiten, Unterschiede von Dorf zu Dorf?

Das schlüsselt sich immer weiter auf und ist schon durch die Topografie und Geschichte vorgegeben, die vielen kleinen Herzogtümer. Es ist ja sogar so gewesen, dass man das, was die DDR eigentlich gleichmachen wollte und was man für vergessen hielt, Anfang der Neunziger wieder propagiert hat. Man hat den Leuten regelrecht eingeredet, es sei nun eine Identitätsressource, dass man aus der Residenzstadt Gotha oder der Residenzstadt Meiningen kommt. Das sind ja Rückgriffe auf feudale Strukturen. Die Menschen sollten wieder Lokalstolz entwickeln, in der Hoffnung, dass sie die Zumutungen der Transformation dadurch besser verkraften.

Eine Kreisgebietsreform, die größere Verwaltungseinheiten geschaffen hätte, ist 2017 gescheitert. Lag das daran, dass Thüringen historisch zurückgeht auf viele kleine Herzog­tümer und regionale Identitäten, über die hinweggegangen wurde?

Mir ist das Thema Kreisgebietsreform das erste Mal im südbrandenburgischen Elbe-Elster-Kreis begegnet. Ich habe dort über den Unmut geforscht, und es war ein großes Thema, ständig wurde darüber geschimpft. Ich sage mittlerweile aus volkskundlicher Perspektive: Finger weg von diesen Vergrößerungen. Sie führen dazu, dass die Leute sich weniger politisch engagieren und die Wahlbeteiligung zurückgeht. Was vor Ort entschieden werden kann, sollen die Leute vor Ort machen. Das aktiviert sie, und dann ist auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit wieder da.

Ich glaube, das hat man inzwischen teilweise erkannt. Aber Eisenach fusioniert jetzt freiwillig mit dem Wartburgkreis.

Mit einem gewissen finanziellen Druck. Es war sicherlich eine dieser Fehlentscheidungen im Zuge der Transformation, Eisenach kreisfrei zu machen, obwohl es zu wenig Einwohner hatte. Und jetzt werden wir nach der Fusion noch nicht einmal mehr Kreisstadt sein. Eisenach insgesamt hat mit einem Bedeutungsverlust zu kämpfen. Wir waren auch mal Bischofssitz, der ist jetzt in Magdeburg. Wir sind mit Bach, Wartburg, der Heiligen Elisabeth, Luther, Telemann historisch eigentlich reich gesegnet, aber das geht eben nicht einher mit der Finanzausstattung der Stadt.

Sie haben in den Nullerjahren über Unmutsäußerungen geforscht. Unmut beruht auf Erfahrungen des Mangels. Materieller Mangel kann es nicht sein. Woran fehlt es den Menschen?

Sinn. Die Sinnstiftung fehlt.

Die man in der DDR hatte, weil sie verordnet war?

Die Welt war zumindest klarer sortiert. Wir haben ein Sinndefizit. Deswegen muss man den Leuten, die zum Beispiel versuchen im ländlichen Raum Sinn zu stiften, den Rücken stärken.

Sie waren damals in Brandenburg unterwegs. Hat das Schimpfen im Vergleich zu damals zugenommen?

Ich denke, es ist gleich geblieben. Nur „der Wessi“ als Hassobjekt hat weitest­gehend „dem Ausländer“ Platz gemacht.

Was ist Unmut für Sie?

In Unmut steckt eine Bandbreite an Gefühlslagen: von einer depressiven Grundstimmung bis zu wildem Hass. Aber Unmut ist erst erfassbar, wenn er artikuliert wird, wie durch Schimpfen. Nun ist Schimpfen nicht gleich Schimpfen, es ist ein ambivalenter Begriff, der Spaß und Ernst beinhalten kann. Ursprünglich war „Schimpf“ ein grober Scherz, lustige Volkstheaterstücke hießen Schimpfspiele. Heute steht Schimpfen eher für Zurechtweisung und sogar Beleidigung.

Ist die Hate Speech eine Fortführung dieser Schimpfkultur, ein Druckablassen, das sich im Internet unendlich vervielfältigen kann?

Die Aggressionsforschung hat ja gezeigt, dass es eben nicht beim Druckablassen bleibt. Die Sprache schafft letztlich dieses Unmutsklima, sie kons­truiert. Sprache ist Handeln. Und das macht die Hate Speech so gefährlich. Mein Buch endete damals mit der großen Sorge: Was passiert, wenn dieser Unmut überhört wird?

Was ist, wenn die Schimpfenden nicht mehr schimpfen?

Dann wählen sie zum Beispiel AfD. Die gab es damals aber noch nicht. 2004 war ich auf einer Hartz-IV-Demo in Elsterwerda, was da abging, war furchtbar. Zehn Jahre später stand Pegida in Dresden auf dem Markt. Da hat sich nichts geändert. Das wird jetzt halt laut rausgebrüllt. Die Konstruktion des Fremden, der Rassismus sind gleich geblieben.

Die AfD ist auch dort stark, wo es wirtschaftlich gut läuft.

Die AfD-Leute sind geschickt, sich zu positionieren und viel präsenter als die anderen Parteien. Als wir vor kurzem in Arnstadt eine Lesung zur Friedlichen Revolution hatten, verschickte die Landeszentrale für politische Bildung auch Einladungen an die Landtagsabgeordneten. Aber nur einer kam: Der Kandidat der AfD. In diesem Punkt bin ich auf die etablierten Parteien wirklich sauer, dass sie ihnen dieses Feld so oft überlassen. Aber ich hadere auch mit den Bürgern. Wir haben ein massives Bildungsproblem. Ich meine nicht die intellektuelle Bildung, es geht um Herzensbildung. Was fehlt ist eine Großzügigkeit, auch im Umgang mit dem Anderssein. Ein Zugang wäre sicherlich über Kunst und Kultur. Um die Herzen der Menschen zu bilden, sie wieder weich zu machen. Dazu braucht es Anlaufpunkte, Kontinuitäten, um verlernte kulturelle Praxen wieder zu etablieren.

Warum gibt es in Ostdeutschland so viel mehr Unmut als Mut? Weil Mut eine individuelle Entscheidung ist, während sich bei Unmut eher das Kollektiv äußert?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es gibt auch ganz viel Mut. Der ist oft bloß nicht so laut wie der Unmut. Wir haben Mut in jedem Kirchenbauverein, der Geld sammelt für Kirchenglocken. Mut bei Leuten, die sich ein Haus kaufen und das wieder sanieren oder sich selbstständig machen.

Schimpft man im Osten Deutschlands anders als im Westen?

Es macht einen Unterschied, ob man in einer auf Individualismus oder auf Kollektivismus ausgerichteten Gesellschaft groß wird. Das heißt, der Ostdeutsche ist darauf getrimmt, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu spielen. In der DDR hat man sich über das Schimpfen einander angenähert. Um sein Gegenüber politisch abzuklopfen, wo steht der denn? Das war eine ganz wesentliche Kommunikation in dieser von Misstrauen geprägten Gesellschaft.

Gibt es eine bestimmte Thüringer Mentalität?

Eine Mentalität, die die Geschehnisse im Landtag begründet, gibt es nicht. Thüringen selbst gibt es ja erst seit 1920, und innerhalb des Landes existieren Unterschiede. Ich merke das immer in den Dörfern: Waren das Gutsdörfer, Bauern- oder Handwerkerdörfer? Ob man eigenverantwortlich mit seinem Land umgeht oder ob der Gutsherr sagt, wo es langgeht, das bewirkt etwas, das sich über Generationen hält. Es gibt ein weiteres Phänomen: die kleinen Manufakturen im Thüringer Wald. Und in den Kleinstädten die Indus­tria­li­sierung, die dazu führte, dass man seine Region nicht verlassen musste, sondern nur vom Dorf in die nächste Stadt wanderte. Das hat eine gewisse Sesshaftigkeit begünstigt und eine gewisse Sparsamkeit. Man wurde so nicht reich, konnte aber zu Hause bleiben.

1990 ist das alte Konstrukt Thüringen wiederbelebt worden. Hat man den Freistaat falsch konstruiert?

Man müsste recherchieren, wo die Netzwerke herkamen, die hier Macht etabliert haben. Zum Beispiel wurde ein Bündnis katholischer Netzwerke in einem eigentlich sehr protestantischen Bundesland auf einmal wirksam. Die Zugänge zur Macht und zu den finanziellen Mitteln waren nicht gerecht verteilt. Da gilt es die Autobahnprojekte nach Südthüringen einmal zu befragen. Typisch für diese frühe 90er-Jahre-Entwicklung sind die Spaßbäder, die überall gebaut wurden. Sie sind ein Symbol für eine übergestülpte und kurzfristig denkende Politik, die die Kommunen heute viel Geld kostet.

Haben Sie ein Rezept, um aus der aktuellen Krise herauszufinden?

Also, ich sag mal mein Patentrezept: Die CDU und die Linken, die nun mal die stärksten Kräfte sind, sollen sich zusammenraufen. Dann müsste man in Thüringen massiv die Kommunen stärken. Und darüber die demokratischen Vorbilder und die Kultur weiter fördern. Und ich würde mir wünschen, dass die Landespolitiker regelmäßig die Dinge vor Ort wahrnehmen. Hingehen, und das nicht ihren AfD-Kollegen überlassen. Das ist in Thüringen mit seinen kleinteiligen Strukturen ganz wichtig: das Gekanntwerden. Die mündliche Kommunikation ist nach wie vor die ausschlaggebende.

Es gibt also doch noch eine Thüringer Besonderheit.

Ja, der direkte persönliche Kontakt, das ist wichtig hier in Thüringen, aber nicht nur hier. Das ist meines Erachtens auch umsetzbar.

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