Gesichter in der Coronapandemie: Mehr Maske zeigen
In der Pandemie verlieren wir unser Gesicht zum Schutz anderer. Ist das schlimm? Oder ist ein bisschen weniger Gesicht auch eine Chance? Ein Essay.
„Was willst du mit der Maske, du Idiot?“, rufen zwei Typen draußen vor dem Supermarkt. Ich gehe weiter und nehme es nicht persönlich. Für sie scheint Zynismus ein wirksames Medikament zu sein gegen eine Welt, die nur noch überfordert. Außerdem meinen sie sicher nicht mich, sondern sind gegen die einfache Idee: auch ohne genügend Belege zur verringerten Ansteckungsgefahr durch Masken im Zweifel für die Schwächeren zu handeln.
Ich glaube jedoch, dass hinter ihrem falsch verstandenen zivilen Ungehorsam mehr steckt. Dass es ihnen weniger um den Verlust der Freiheit geht als um den Verlust des Gesichts. Doch was ist eigentlich ein Gesicht?
Das Gesicht ist vieles. Im Alltag steht es für das, woraus Menschen ihr mehr oder weniger eigenes Selbst zusammenbasteln. Es ist eine Nutzeroberfläche, oder Medium, es vermittelt das öffentliche Selbstbild, das jede Person für sich in Anspruch nimmt – das „Image“.
Das Gesicht ist wie der Kapitalismus oder der deutsche Wald. Es wird für natürlich gehalten, ist aber gemacht und geht einem komplexen Prozess voraus. Die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari nennen ihn „Vergesichtlichung“. Dieser Prozess, sagen sie, habe mit dem berühmten Märtyrer begonnen, der bis heute an vielen Orten dieser Welt gesenkten Hauptes über Türen abhängt: Jesus. Durch Jesus mit seinem allgegenwärtigen Antlitz in Gemälden, Büchern und Kreuzen sei das Subjekt, also der menschliche Prototyp, stetig mit dem weißen männlichen Gesicht verknüpft worden.
Gesichter folgen Logik des Genres
Mit der Porträtmalerei in der Renaissance wurde dieses Urgesicht schließlich zum Verkaufsschlager. Und in der zur selben Zeit beginnenden Ära des europäischen Kolonialismus zum Symbol einer imperialen Gleichmachung, kulturell wie territorial.
Mit dem erfolgreichen Export in die kolonisierten Länder hat sich nicht nur das weiße Gesicht, sondern auch dessen binäre Politik verbreitet. Alle, die jenem Urgesicht nicht entsprachen, Nichtweiße, Kinder und Frauen, wurden als Abweichung markiert. Abweichungen, die im 19. Jahrhundert pseudowissenschaftlich begründet und systematisiert wurden. So meinte etwa der Naturforscher Francis Galton, Grundsteinleger der Eugenik, 1869 in seinem Buch „Hereditary Genius“ bei dem Vergleich verschiedener Gesichter herausgefunden zu haben, dass die „durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten“ nichtweißer Menschen „in etwa zwei Stufen unter den unsrigen“ lägen.
Solche menschenfeindlichen Gespinste sind im gesellschaftlichen Unbewussten gespeichert und prägen bis heute die standardisierte Wahrnehmung von Gesichtern. Sie sind eng mit der Geschichte des Rassismus verbunden – und haben Menschen zu Objekten gemacht. Gesichter folgen der Logik von Genres: Sie sind derart genormt, dass ihre Träger bereits kurz nach der Geburt unbewusst in existierende Gesichtsgenres eingeordnet werden.
Das beiläufige „du siehst aus wie“ oder „du erinnerst mich an jemanden“ im Alltag ist Ausdruck einer mehr oder weniger unbewussten Kategorisierung von Typen, die alle Menschen vornehmen – und die auch medial forciert werden: Seit dem Kalten Krieg haben Bösewichte in US-Serien und Hollywoodfilmen (von „Black Hawk Down“ bis „Homeland“ ), aber auch in deutschen Vorabendserien, oft nichtweiße Gesichter. So werden bestimmte ethnische Stereotypen mit negativen Konnotationen verknüpft.
Markierung von Abweichungen
Seit der Entstehung des Urgesichts sind noch weitere, wenn auch eher ästhetische Systeme entstanden, die vorschreiben, wie ideale Gesichter aussehen sollen, etwa die heteronormativen Weiblichkeits- oder Männlichkeitstypen in der Werbung und Popkultur. Auch sie markieren Abweichungen vom Mainstream, nichtnormative Sexualitäten, queere und LGBTQ+-Lebensstile oder religiöse Verschleierung als marginal – oder exotisch.
Gesichter stehen diesen Denkmustern zufolge gerade nicht für Individualität, sondern für eine Art Stilelement, das einem Genre eingeordnet wird, indem sie innerhalb weniger Sekunden die sexuelle Orientierung, Ethnie oder Klasse preisgeben sollen.
Die jahrhundertealte Praxis des Objektifizierens findet heute in der Gesichtserkennung ihre industrielle Perfektion – Gesichter sind profitable Devisen. Es ist kein Zufall, dass ein Unternehmen, das digitale Räume als „Öffentlichkeit“ verkauft, „face“ im Namen trägt: Algorithmen lieben Gesichter – und wer stets vorne im Feed mitspielen möchte, sollte möglichst viele Selfies seines Gesichts posten, das mit der Digitalisierung sozusagen ein Upgrade bekam: Als überindividuelles, dicht vernetztes, dynamisches Ding verbreitet es sich in jeder Sekunde als Werbefläche zur Schaffung neuer Daten.
Auch der vertrauenerweckende Effekt von Gesichtern ist lukrativ: So macht sich das Industriedesign seit jeher gerne die sogenannte Fusiform Face Area zunutze, also die menschliche Gesichtserkennung, indem es die Fronten von Autos wie Gesichter formt – und sie so zu vertrauten Objekten macht, die man einfach lieb haben muss, oder vor denen man, wie bei den aktuell eher dämonisch geformten SUV-Fronten, Angst bekommt – je nach Vorliebe.
Was bedeutet der Verlust des Gesichts?
Wenn Gesichtern basale Merkmale abhanden kommen, werden sie unvertraut – und lösen im schlimmsten Fall Furcht aus. Doch wovor? Vielleicht vor Kriminellen oder Leuten wie die von schlechten Drogen gezeichneten, aber oft liebenswerten Menschen, die vor meiner Haustür in Neukölln campen. Vielleicht aber auch vor dem Verlust des Gesichts – und damit der Macht. Etwa die Macht der Sichtbarkeit des dominanten Genres „weiß und männlich“.
Womöglich ist es diese Macht, nicht die zum substanzlosen Kampfbegriff heruntergerockte „Freiheit“, für welche die Männer vor dem Supermarkt und ihre Querdenker-Kolleg*innen so vehement eintreten. Doch was ist eine echte Maske eigentlich gegen ein Gesicht, das selbst eine Maske ist? Nicht nur in der dominanten Form des weißen männlichen „Urgesichts“, sondern auch als „Charaktermaske“, der sich Karl Marx zufolge Menschen als Träger*innen gesellschaftlicher Funktionen unterwerfen müssen?
Wäre der Verlust eines solchen Gesichts so schlimm? Könnte die Verhüllung des Gesichts nicht gerade das Gegenteil der Entmenschlichung bewirken, die es hervorgebracht hat? Eine neue Vermenschlichung durch die Verweigerung des Sichtbarkeitsregimes? Keine Frage, Masken verletzen den hart erarbeiteten Stolz des Selbstausdrucks. Sie sind gleichmacherisch, weil sie markante Gesichtsbereiche verdecken. Sie verlangen dem Ego eine Demut ab, die es als Individuum, das sich im digitalen wie im physischen Leben stets von der besten Seite zeigen will, längst verlernt hat.
Was also ist eine Person ohne Gesicht? Die kurze Antwort: ein Wesen unter vielen. Die komplexe: ein Wesen, dessen Gesicht selbst eine Maske ist, die ihr Macht, Status oder Anerkennung verleiht – oder Ohnmacht auferlegt. Ein Wesen, das Teil einer Gemeinschaft ist, die, wie sich in der Pandemie in Echtzeit zeigt, auf eine fatale Trennung zwischen Ich und den anderen, zwischen Natur und künstlicher Umwelt setzte.
Neues Symbol im Anthropozän
So schwierig es auch sein mag, beim täglichen Aufsetzen nicht wieder „Scheißmaske“ zu denken oder erwartbare Beschimpfungen zu ignorieren, weil utopisches Potenzial ausfindig zu machen von den Hüter*innen des Realismus gerne als weltfremd abgetan wird: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Verdeckung des Gesichts durch Masken als Symbol der Demut umzucodieren, die auch über die temporäre Pandemie hinausgeht: als Symbol für ein neues, der gesamten Erde weniger feindlich gesinntes Wesen im Anthropozän.
Das gegenseitige Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten andeutet, ohne in quasirassistische Farbenblindheit zu verfallen, die behauptet, alle Menschen seien gleich. Das der Menschheit vor Augen hält, wie destruktiv es ist, die heteronormative Mehrheit als Mitte eines Wertesystems zu verstehen, dessen scheinbare Allgemeingültigkeit unterdrückt, statt zu befreien.
Ein bisschen weniger Gesicht ist die Chance auf eine Gesellschaft, die sich neu entdeckt, indem sie ihre Verletzlichkeit nicht versteckt.
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