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Gesellschaftskritik in ÄgyptenSuperheld aus der Garküche

Er hängt in der U-Bahn und sitzt auf den Dächern. Spiderman inszeniert sich in Kairo, um auf den mühsamen Alltag aufmerksam zu machen.

Über den Dächern von Kairo kämpft er für ein besseres Leben. Bild: Karim El-Gawhary

Die Fotos von Kairos Spiderman kursieren seit Wochen in den sozialen Medien Ägyptens. Mal hängt sich der Superheld kopfüber in der Kairoer U-Bahn auf, die Haltestangen in seinen Kniekehlen, weil er im Gedränge keinen Platz zum Sitzen findet. Mal sitzt er Wasserpfeife rauchend auf den zugemüllten Dächern eines Armenviertels oder läuft atemlos hinter einem Bus her, der nicht an der Haltestelle stoppt. Er schafft es gerade noch aufzuspringen. Spiderman und das Kairoer Alltagsleben haben auf dem ägyptischen Facebook und Twitter Kultstatus.

Spiderman selbst telefonisch zu erreichen ist nicht ganz so einfach. Das geht nur über Hossam Atef, den jungen Hotelgastronomie-Studenten. Er hatte vor einigen Monaten die Idee, mittels eines gestressten Superhelden auf den mühsamen Alltag seiner Landsleute aufmerksam zu machen. Seitdem inszeniert er Spiderman in Kairos Straßen und hält die Szenen mit seiner Kamera fest. Hossam macht ein Treffen aus, in den Tiefen des Kairoer Armenviertel Bulaq al-Dakrour.

Eine gute halbe Stunde lang geht es durch die engen Gassen des nie enden wollenden Viertels, von denen es in Kairo so viele gibt, dass sie über die Hälfte der Stadtfläche bedecken. Hier können sich die Menschen quer über die Gasse die Hände reichen. Unten kommt man nur mit einer Motorrikscha, einem Tuk-Tuk durch, immer kurz davor, an den Wänden der Häuser entlangzukratzen.

Am Ziel empfängt uns ein junger Mann, der mit seinem Klappmesser schwingend drohend in die Gasse ruft: „Wer ist Mann genug hier, sich mit mir anzulegen?“. Ahmad al-Arbagi – Ahmad der Karrenkutscher nennen sie ihn hier. Er ist der lokale Baltagi, der Schläger der Gasse, dessen Dienste auch angemietet werden können. Er steht an einem Stand und verkauft in rosa und weißen Tüll gehüllte Puppen, die so gar nicht zu seinem Image passen.

Sechs Jahre Gefängnis

„Spiderman ist noch nicht da“, sagt er und bietet einen wackeligen Kaffeehausstuhl an, um in der belebten Gasse Platz zu nehmen. Er sei gerade nach sechs Jahren aus dem Gefängnis gekommen, erzählt er und deutet auf eine lange Narbe in seinem Gesicht. Die habe ihm jemand mit einem Messer in einem Streit zugefügt, er habe ihm seines dafür in den Hals gerammt.

Eigentlich würde er gerne als Automechaniker arbeiten, das habe er früher gemacht. Ein alter Mann, der auf einem Wagen Zuckerrohrsaft verkauft, schüttelt mit dem Kopf. „Wir alle kennen Ahmad seit Kind auf“, sagt er. „Wir haben ihn praktisch aufgezogen, aber heute haben alle in der Gasse Angst vor ihm.“

Zum Glück kommt eine Gruppe Jugendlicher um die Ecke. „Da ist ja Spider endlich“, ruft Ahmad. Die Gruppe bittet in den Hauseingang. „Nehmt mich mit“, ruft Ahmad der Kutscher, „Wenn ihr wollt, mach ich den Superman und werfe mich vom Dach und ihr könnte es filmen“, ruft er zum Abschied.

Auf einer engen Treppe geht es sieben Stockwerke hoch. Oben am Dach haben sich die Jugendlichen eingerichtet. Ein paar Stühle, eine Matratze, eine Wasserpfeife – es ist der Ort, an dem sie seit Jahren gemeinsam abhängen.

Ein Koch aus der Garküche

Wer denn jetzt Spiderman sei? Der Jüngste, Atef Saad, hebt die Hand und grinst. Er verschwindet in einem kleinen Verschlag, um sich umzuziehen. „Eigentlich arbeitet unser Spiderman als Koch in einer Garküche“, erzählt Hossam. Als sie vor einigen Monaten in einer heißen Sommernacht hier oben saßen und über die Dächer des Armenviertels blickten, kam ihnen die Idee zu Spiderman.

„Ich war überrascht, wie das eingeschlagen ist. Ich habe inzwischen sogar Sorge, das die Idee von Werbeagenturen kommerzialisiert wird“, sagt Hossam. Viele hätten sie inzwischen nachgemacht. Es gäbe mittlerweile wohl rund 50 andere Spiders und sogar einen Kairoer Batman. „Deswegen kann ich auch nicht verraten, was wir als Nächstes vorhaben.“

Tatsächlich haben inzwischen viele Firmen in Kairo Spiderman als Werbeträger entdeckt. Als vor wenigen Tagen ein Spiderman auf einem Platz in einem besseren Viertel im Osten Kairo Werbegeschenke verteilte, wurde er von der Polizei festgenommen. Auf der Polizeistation brach dann unter den Offizieren ein Wettbewerb aus, wer zusammen mit Spiderman fotografiert wird. „Wir haben dich schon lange gesucht, denn unsere Kinder fragen die ganze Zeit nach dir“, erklärte einer der Polizisten den Fototrubel auf der Wache.

Aber zurück zum Original im Armenvierten Bulaq al-Dakour. Der kommt verkleidet aus dem Verschlag am Dach, in seinem blau-roten, eng anliegenden Kostüm. Vom Dach winkt er den Kindern in der benachbarten Schule. Die Schüler versammeln sich im Pausenhof und fordern Spiderman lautstark auf, herunterzukommen.

Er soll fliegen

„Das ist ein Problem“, erzählt Spiderman. Die wenigen Male, in denen er mit dem Kostüm runtergegangen ist, wurde er von Scharen von Kindern durch die Gasse getrieben, die ihn aufforderten, zu fliegen oder wenigstens die Wände hochzuklettern. „Die glauben, ich bin echt“, schildert er amüsiert. Um ein paar Fotos zu machen, bedient sich dieser Spiderman dagegen ganz menschlich einer Leiter, um dann auf den höchsten Punkt des Daches zu steigen.

Wenn sie draußen in der weiten Welt Kairos Fotos machen, müssen sie vorsichtig sein. Bei dem Bild, auf dem Spiderman in der U-Bahn hängt, hatte Atef eine Galabeya, ein traditionelles ägyptisches Beinkleid für Männer, über seinem Spidermankostüm angezogen, und Hossam hatte die Kamera unter seinem Sweatshirt versteckt. Der Rest musste schnell gehen.

Atef streifte die Galabeya ab, hängte sich an die Stange und Hossam drückte ab. Bei der nächsten Station waren sie dann schon weg. Trotzdem wurden auch sie schon zweimal von der Polizei aufgehalten. Abweichungen sind der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Und nicht jeder Spiderman kommt mit einem blauen Auge davon, weil die Polizisten Erinnerungsfotos wollen.

„Das einfache Überleben im ägyptischen Alltag ist wirklich nichts für Superhelden, bei allem, was die Menschen hier durchmachen müssen. Hier wäre alles zu viel für Spiderman – der ganze Lärm und Schmutz, die vielen Menschen …“, meint Atef. Genau das sei Sinn und Zweck ihrer Aktionen, erklärt Hossam. „Spiderman muss normalerweise gegen irgendwelche bösen Kreaturen kämpfen, in Ägypten allerdings kennen wir nur ein Monster: unsere Lebensumstände“.

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