Geschlechtergerechte Sprache: Ziemlich unsensibel
Gendersternchen schaffen neue Hürden und schließen jene, die wenig oder nicht lesen können, aus. Sprache sollte nicht unnötig verkompliziert werden.
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D ie Kanzlerkandidaten und die Kanzlerkandidatin stolpern sich im Wahlkampf durch ihre Glaubenssätze zum Gendern. Obwohl die Gleichstellung von Männern und Frauen mittlerweile gesellschaftlicher Konsens ist, herrscht ein erbitterter Streit darum, ob und wie diese sprachlich abgebildet werden soll. Vom Gesetzesentwurf im „generischen Femininum“ bis zu „Genderwahn“ und „Sprachpolizei“ – in der überhitzten Debatte verlieren wir aus dem Blick, worum es wirklich geht: Inklusion. Es ist Zeit, den ungelösten Widerspruch zwischen geschlechtergerechter Sprache und Barrierefreiheit in den Fokus zu rücken.
Um gleich mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Der Gender-Doppelpunkt ist nicht barrierefrei, ebenso wenig wie das Sternchen. Gendersprache schafft Irritationen, die teils sogar gewollt sind, um für geschlechtliche Vielfalt zu sensibilisieren. Relativ unsensibel ist dieses Vorgehen jedoch im Hinblick auf die Barrierefreiheit. Die angeblich „diskriminierungsfreie“ Sprache schafft Hürden, die anderen Menschen die Teilhabe erschweren.
„Erschwert wird das Textverständnis für Menschen mit sehr geringen Lesekompetenzen (Adressierte der Leichten Sprache) oder Leseungeübte (Adressierte der Einfachen Sprache, etwa 40 Prozent der Bevölkerung). Wegen der komplizierteren Rechtschreibung und Grammatik wird es schwieriger, die Schriftsprache zu erlernen. „Bei geübten Lesenden sinkt die Lesegeschwindigkeit, bei weniger geübten auch die Lesemotivation“, sagt der Soziologe Wolfgang Beywl.
Barrierefreiheit ist im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung verankert und soll in allen öffentlichen Einrichtungen umgesetzt werden, das gilt auch für Information und Kommunikation. Jedoch wird dem Thema weit weniger Beachtung geschenkt als der sprachlichen Gleichstellung der Geschlechter.
Dörte Stein ist selbstständige Kommunikationsdesignerin in Düsseldorf. Ihre Homepage ist: muntumedia.de.
Es bricht kein Shitstorm aus bei Texten, die für viele nicht zugänglich sind, zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Seh- oder Hörbehinderung, aber auch Autismus, Demenz oder Schlaganfall. Nicht zu vergessen Kinder und Alte. Um Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen, sollte die öffentliche Sprache einfach und verständlich sein. Aus diesem Grund verbieten Sachsen und Schleswig-Holstein nicht das Gendern, sondern das Sternchen an Schulen. Sie wollen geschlechterneutrale Sprache nach den Regeln des Rates für deutsche Rechtschreibung.
Da sich die geschlechtergerechte Sprache in einer Experimentierphase befindet, gibt es keine festen Regeln. Sie ist uneinheitlich und widersprüchlich, sie verschiebt die Bedeutung von Sonderzeichen und grammatischen Formen. Wer ohnehin schon Schwierigkeiten mit dem Lesen oder dem Sprachverständnis hat, braucht keine zusätzlichen Hürden. Domingos de Oliveira, Dozent und Referent für Inklusion und digitale Barrierefreiheit, ist weder für noch gegen eine gendergerechte Sprache.
Die bisher üblichen Formen hält er jedoch für ungeeignet: „Da jede Gendervariante bei Text und Sprache gängige Konventionen verändern muss und damit komplizierter macht, trägt keine davon in unserem Sinne zur Barrierefreiheit bei. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Betroffenen-Gruppen auf eine für alle Seiten akzeptable Variante einigen.“
Viele blinde und sehbeeinträchtigte Menschen nutzen eine Sprachausgabesoftware, die Sonderzeichen vorliest, weil das Sternchen, der Unterstrich und der Doppelpunkt noch andere Funktionen erfüllen müssen, als auf geschlechtliche Vielfalt hinzuweisen. Dennoch können die Gendermarker nicht einfach ausgeblendet werden, denn das würde die Sprache vom Schriftbild entkoppeln und letztlich Blinde aus der politisch korrekten Sprache ausschließen.
Teinehmende und Abteilungsleitung
Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) wünscht sich deshalb eine gendersensible Sprache ohne Sonderzeichen: „Damit klar wird, wie ein Text von einer Assistenz oder einem Screenreader vorgelesen werden soll, sollen Personenbezeichnungen ausformuliert werden. Gendern durch Sonderzeichen und Typografie ist nicht zu empfehlen. Wir bemühen uns, Textlösungen zu finden, die kein Geschlecht ausschließen.“
Wie der DBSV bemühen sich viele Institutionen um ein Gleichgewicht zwischen geschlechtergerechter und barrierefreier Sprache. So empfiehlt zum Beispiel das Sozialministerium Baden-Württemberg: „Abteilungsleitung“ statt „Abteilungsleiter“; „die antragstellende Person“ statt „der Antragsteller“, „die Teilnehmenden“ statt „die „Teilnehmer“, „die ausländische Delegation“ statt „die ausländischen Vertreterinnen und Vertreter“.
Dadurch wird die Sprache zwar lesbar im strengen Wortsinn, aber nicht unbedingt verständlich. Verallgemeinerungen, Partizipkonstruktionen, Doppelnennung und umständliche Umschreibungen erfordern ein höheres Maß an Sprachkenntnis, Abstraktionsvermögen und Konzentrationsfähigkeit. Doch diese Fähigkeiten sind nicht bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden.
Cordula Schürmann, Prüferin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe, setzt sich für eine verständliche Sprache ein: „Jeder soll alles verstehen können. Nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten brauchen Leichte Sprache. Auch Menschen, die nicht so gut lesen können, ältere Menschen, Menschen, für die Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Ich wünsche mir mehr Leichte Sprache im Internet und bei allen Informationen, die wichtig sind.“
Zwar ist Leichte Sprache nicht immer und überall umsetzbar, aber zumindest dürfen wir die Sprache nicht zusätzlich verkomplizieren. Die Blinden- und Sehbehindertenverbände zeigen sich bemerkenswert solidarisch und kompromissbereit in der Frage der gendergerechten Sprache. So eine Haltung kann man sich umgekehrt vonseiten der Geschlechterkämpfer*innen nur wünschen.
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