Geschichtsaufarbeitung in Russland: Späte Genugtuung
Einem 34-Jährigen gelingt es, die Befehlskette zu rekonstruieren, die seinem Urgroßvater unter dem Diktator Stalin das Leben kostete.
Karagodins Familie erfuhr von seinem Tod erst in den 1950er Jahren, als den Angehörigen posthum die Rehabilitierung mitgeteilt wurde. Karagodin war in der „Sache Harbin“ als Drahtzieher und vermeintlicher „japanischer Spion“ angeklagt worden. Mindestens 30.000 Verdächtige sollen in dieser Sache damals inhaftiert und erschossen worden sein.
2011 beschloss Denis Karagodin dem Schicksal des Urgroßvaters nachzuforschen. Der studierte Philosoph wollte anhand von Dokumenten die Befehlskette aufzeigen, die für den Mord am Urgroßvater verantwortlich war. Vom Politbüro der KPdSU in Moskau bis zu den Handlangern vor Ort im sibirischen Tomsk: Leiter des örtlichen Büros des NKWD, Fahnder, Fahrer, Gefängniswärter und Sekretärinnen, die die Urteile abtippten.
Historiker und Archivmitarbeiter des Geheimdienstes FSB, der Nachfolgeorganisation der Geheimpolizei NKWD, hielten das für ausgeschlossen. „Die meisten glaubten, die Akte gäbe es nicht mehr“, meint Karagodin. „Ich war mir jedoch sicher, dass sie noch existiert.“
Akte aus Nowosibirsk
Fünf Jahre korrespondierte er mit Archiven und Nachkommen von Terroropfern. Der Schriftverkehr mit den Geheimdienstarchiven sei mühselig gewesen. Mitte November traf die Kopie einer Akte aus Nowosibirsk ein. Es war ein Spezialarchiv, auf das er zufällig durch einen Vermerk auf dem Vorgang eines ebenfalls hingerichteten Nachbarn des Urgroßvaters aufmerksam wurde. Später sollte sich herausstellen, dass Akten regelmäßig dorthin ausgelagert wurden.
Die Akte enthielt das Urteil und den Erschießungsbefehl der Tomsker NKWD-Abteilung gegen Stepan und drei Dutzend weitere Inhaftierte. Die Verantwortlichen im Tomsker NKWD-Büro und das Erschießungskommando waren namentlich erwähnt. „Da begriff ich, meine Arbeit ist zu Ende, die Kette ist komplett“, so Karagodin.
Mit jedem Jahr geben die FSB-Archive unwilliger Auskunft. Karagodin vermutet daher, die Archivare in Nowosibirsk seien sich über die Brisanz der Akte nicht im Klaren gewesen.
Der 34-Jährige scheint bislang der erste zu sein, dem es gelang, die tödliche Befehlskette lückenlos nachzuweisen.
Bitte um Vergebung
Die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Medien in Windeseile. Kurz darauf meldete sich die Enkelin eines Mannes aus dem Erschießungskommando. Sie war bestürzt. Denn auch ihr Urgroßvater mütterlicherseits gehörte zu Stalins Opfern. „Jetzt stellt sich heraus, dass es in einer Familie Opfer und Täter gab. Das ist sehr schmerzlich.“ Sie bitte um Vergebung. Karagodin dankte ihr. Für ihn sei das eine Geste ziviler Versöhnung.
Der Philosoph will nun vor Gericht ziehen. Auftraggeber, Mitläufer und Mörder sollen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Juristisch dürfte das wegen der Verjährungsfristen schwierig sein.
Nicht allein deswegen. Auch der unausgesprochene Konsens zwischen Staat und Gesellschaft blockiert die Aufarbeitung. Gräueltaten werden verschwiegen, die Stalinzeit beschönigt.
Karagodins Vorstoß ist auch in den sozialen Medien umstritten. Fast zeitgleich veröffentlichte die Menschenrechtsgesellschaft Memorial, seit 30 Jahren betreibt sie die Aufarbeitung des Stalinismus, die Liste von fast 40.000 Mitarbeitern der Geheimpolizei NKWD. Der Hobbyhistoriker Andrej Schukow notierte 15 Jahre Namen, die in Urteilen gegen Volksfeinde auftauchten, und verfolgte deren weiteren Karriereweg.
Das offizielle Russland ist beunruhigt. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Die kremlnahe Iswestija lehnt Aufarbeitung ab, da dies nur den Wunsch nach persönlicher Rache fördere. Das Blatt Komsomolskaja Prawda meldete, Geheimdienstveteranen hätten Präsident Putin gebeten, die im Internet zugängliche Memorialliste zu schließen. Sie fürchten die Rache der Kinder.
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