Geschichte des Summer of Love: Eine Überdosis Hippies
Im Spannungsfeld von freier Liebe, Dauerrausch und Genitalinfekt: Wie sah der Alltag in San Francisco 1967 aus?
Der Schlüssel, um auf der Straße zu überleben, ist sehr, sehr einfach: Versuche so wenig wie möglich auf der Straße zu leben. Für 7 bis 15 Dollar Miete im Monat bekommt man eine Garage – offiziell zu „Lagerzwecken“ – und kann Matratze und Schlafsack hineinlegen. Verabrede mit einer nahe gelegenen Tankstelle, dass du Klo und Waschbecken benutzen kannst, wenn du hier und da aushilfst. – Quelle: „Wie man auf der Straße überlebt“, Untergrundzeitung The Berkeley Barb, 2. Juni 1967
Auch die Droge, die den regenbogenschönsten Rausch macht, kann man überdosieren. Und im Sommer 1967, als die Temperaturen in San Francisco langsam über zwanzig Grad klettern, bekommt die Stadt ihre Überdosis. Eine Überdosis Menschen in einem Viertel, das nur ein paar Straßenzüge weit reicht, um die Kreuzung zwischen Haight Street und Ashbury Street herum: Haight-Ashbury. Die Sommerferien haben begonnen und aus den Highschools und Colleges des Landes schlagen sich Zehntausende Jugendliche nach Kalifornien durch. In den heruntergekommenen viktorianischen Prachtbauten von Haight-Ashbury wird es eng. Eine Überdosis Hippies.
Die Geschichten aus dieser Zeit haben nicht viel mit den Blumenbildern gemeinsam, die im Fernsehen die CD-Boxen zum Summer of Love bewerben. Sie sind in den Archiven der Szenezeitschriften, in Stadtteilchroniken, Erinnerungsbüchern, Reportagen und Videoschnipseln festgehalten.
Es gibt ein paar Leute, die 1967 den Ansturm auf San Francisco kommen gesehen haben. Sie sind vorbereitet – so gut das eben geht. Schon im April wurde der offizielle Rat des Summer of Love gegründet: eine Gruppe von Theateraktivisten, Untergrund-Zeitungsmachern und Anarchisten. Sie ahnen, dass es zu wenig Essen und Schlafplätze geben wird. Sie rufen zu Putzaktionen auf, knüpfen Kontakte zu Kirchgemeinden, um Unterkünfte zu organisieren.
Immer dabei sind die Diggers, eine Agit-Pop-Theatergruppe, die inzwischen „unsichtbare Regierung“ des Viertels genannt wird. Den Namen haben sie sich von britischen Anarchisten aus dem 17. Jahrhundert geliehen. Kopf der Gruppe ist Emmett Grogan, ein schmaler Typ mit James-Dean-Frisur, der in den Straßen von New York aufwuchs und heroinabhängig wurde, als er fast noch ein Kind war. Als er aus der Armee fliegt, ändert er seinen Namen. In den Sechzigern kommt er nach San Francisco.
Grogan und seine Freunde gründen einen Free Store, in dem alles umsonst ist. Dafür sammeln sie, was irgendwie brauchbar scheint: Kleider, Schuhe, Schaufeln, Hämmer, Zeltplanen. „Don’t waste, give to the Diggers“ steht auf den Ladenfenstern des Free Store, drumherum Blumen und Herzen. Über der Eingangstür in großen Buchstaben: LOVE.
Auf der Straße zu leben ist ein bisschen wie Camping, aber mit einem Unterschied: Du brauchst mindestens ein Paar fester, gutsitzender, schwerer Funktionsschuhe. Sandalen sind tagsüber o. k., aber du holst dir eine Erkältung, wenn du mit ihnen schläfst.
Als der Sommer kommt, hat Haight-Ashbury seine besten Monate schon hinter sich. LSD ist seit dem Herbst 1966 in Kalifornien offiziell verboten. Das ändert nicht viel, außer an der Paranoia vor Zivilfahndern. Aber die Zeit der Acid-Tests – legale Partys, bei denen eine Kinderbadewanne mit LSD-Cocktail in die Mitte gestellt wurde – geht zu Ende.
Die Stadtbusse machen einen Bogen um den Drogenbasar der Haight Street, in dem Jugendliche um Wechselgeld schnorren. Dafür kommen die Reporter. Der Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson bringt im Mai einen Text im New York Times Magazine. Er beschreibt das Hippie-Phänomen als subtile Reklame für das, was lautlos um sie herum geschieht: die heimlichen Drogenexzesse des karrierebewussten, respektablen Teils der Gesellschaft.
Überall im Land liest man von Haight-Ashbury. Und dann erscheint im Mai ein Lied, dass die Radiosender sofort in Heavy Rotation spielen: „If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair. If you come to San Francisco, Summertime will be a love-in there.“ Der Song wirkt wie ein Ruf.
Du solltest drei Garnituren Kleidungsstücke haben, von deinen eins als „Fassade“ funktioniert, wenn du in die Spießer-Welt zurückgehst für einen Job oder einen Gerichtstermin, falls nötig. In San Francisco ist es neblig und es regnet oft. Du brauchst einen Pfadfinderponcho oder einen von diesen 1-Dollar-Plastik-Regenmänteln.
Viele der Neu-Hippies, die in San Francisco stranden, sind Jugendliche. Wie Debbie und Jeff, die die Autorin Joan Didion für ihre Reportage trifft. Jeff ist 16, Debbie 15, die beiden sind ein Paar, wovon Debbies Eltern nicht wahnsinnig begeistert waren. Debbie und Jeff sind mit 100 Dollar direkt von der Schule aus weggelaufen.
Warum? Debbis Eltern wollen, dass sie zur Kirche geht; wenn sie am Wochenende ausgehen will, muss sie vorher ihre T-Shirts für die kommende Woche gebügelt haben. In der Klasse sind ihre Röcke länger als die aller anderen Mädchen. Solche Sachen.
Die Untergrundzeitschrift des benachbarten Berkeley beginnt, Anzeigen von Eltern zu drucken, die ihre Kinder suchen. Und auf einem Schild in der Haight Street schreibt Marla Pence aus Portland: „Seit Ostern ist mein Christopher Robin weg.“ Einmal habe er angerufen, dass er nach Hause kommt, seitdem hat sie nicht von ihm gehört. „Wenn er noch da ist, sagt ihm, wie sehr ich mich sorge.“
Aus einer Überlebensanleitung
Brotfabriken und Bäckereien haben Essen übrig, das zu alt ist, um verkauft zu werden, aber gut genug, um gegessen zu werden. Wenn du wirklich hungrig bist, versuch es in einer Kirche. Die Heilsarmee ist ein wahrer Freund – vergiss das nie.
Die meisten Hippies überlegen nicht, wie sie an Essen kommen. Emmett Grogan, der Kopf der Diggers, denkt für sie darüber nach. Er und ein Freund fahren mit dem Pickup zum Markt von San Francisco und überreden die Verkäufer, ihnen altes Gemüse zu überlassen. Mal klauen sie 75 Liter Milch bei einer Molkerei, dann schnorren sie bei der ukrainischen Bäckerei und dem Geflügelhändler.
Aus der Beute wird gekocht. „Täglich 16 Uhr. Bringt Schüssel und Löffel mit. Es kostet nichts, weil es euch gehört. Die Diggers“, steht als Anzeige in Szenezeitschriften. Nachmittags wird der Eintopf aus dem offenen Kofferraum ausgeteilt.
Aber auch Grogan kriegt immer nicht alles, was er will. Einen Schlachter, der keine Fleischreste spenden will, beschimpft er als „Faschistenschwein“. Prompt schlägt der mit der flachen Seite seines Hackmessers zu.
Mach keine Nadeltauschspiele mit Drogen. Du kannst Hepatitis bekommen, was in diesem Spiel bedeutet: Drei Felder zurück.
Die Sache gerät außer Kontrolle, als auf der Haight Street im Laufe des Sommers immer mehr mit Speed und Heroin gehandelt wird. Fast alle Hippies nehmen zwar Drogen, aber selbst wer regelmäßig LSD schluckt, ist nicht auf einem Dauertrip. Eine 250µg-Tablette einmal die Woche, das gilt als gute Ration.
Berichte von Vergewaltigungen machen die Runde, eines Nachts bricht jemand in den Free Store ein und verwüstet ihn – obwohl hier tagsüber alles umsonst ist. Geschlechtskrankheiten breiten sich aus.
Wieder sind es die Diggers, die versuchen, die Sache in den Griff zu bekommen. Mit Matrizendruck kopieren sie ein Gedicht und verteilen es auf den Straßen. Auf dem Zettel steht in geschwungenen Buchstaben: „Fleischer, Bäcker, Kerzenhaltergestalter / Geschlechtskrankheiten kann jeder bekommen / auch die, die du liebst.“
Fast niemand hat eine Krankenversicherung. Aber in einem Haus mit großen Erkerfenstern, 558 Clayton Street, Obergeschoss, eröffnet im Juni die erste Free Clinic der USA. Wie die Klamotten im Free Store ist die Behandlung umsonst.
Vermeide es, aus Autos zu klauen oder Einbrüche. Es gibt Leute, die wissen, wie man das händelt und du kannst bestenfalls ein Amateur werden. Hab immer deinen Ausweis bei dir.
Als es 1967 Herbst wird in San Francisco, lässt die Wirkung der Hippie-Überdosis langsam nach. Der Kater setzt ein. Die Diggers laden zu einem Begräbnis des Hippies. Sie tragen einen Sarg durch die Straßen von Haight-Ashbury. „Geht nach Hause, Kinder“ ist eine der Botschaften. Und viele gehen wirklich. Schließlich hat an den Colleges und High Schools der Unterricht wieder angefangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative