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Geschichte Haitis in einem BrennglasDie letzte Oase des Friedens

Brandstiftung zerstörte das Hotel Oloffson in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Es stand für die kulturelle Identität des Landes und für Demokratie.

Das Oloffson Hotel in Port Au Prince Haiti vor der Brandkatastrophe Foto: Roger Hutchings/Alamy/mauritius images

„Ein mystischer Ort im Herzen eines mystischen Landes“, mit diesen Worten hat der haitianische Hotelbesitzer und Bandleader Richard Auguste Morse sein Haus, das altehrwürdige Hotel Oloffson über den Hügeln von Port-au-Prince in einem Film des haitianischen Regisseurs Richard Sénécal beschrieben. Auf Außenstehende wirkte dieses 138 Jahre alte Architekturdenkmal eher wie ein lebender Organismus und weniger wie ein gewöhnliches Hotel.

Am 6. Juli ging das Oloffson infolge von Brandstiftung in Flammen auf. In kurzer Zeit wurde aus dem mehrstöckigen Gebäudekomplex ein Asche­haufen. Jetzt ist nur noch Brachland zu sehen. „Wir wissen noch nichts über die genauen Tatumstände“, textete der Regisseur Sénécal aus Port-au-Prince. „Nachdem wir eine Kameradrohne über das Grundstück haben fliegen lassen, blieb lediglich die traurige Gewissheit, dass das Hotel abgebrannt ist. Meine rechte Gehirnhälfte wusste immer, dass es passieren könnte, die linke hat sich geweigert, daran zu glauben, bis es sich bewahrheitet hat.“

Das Oloffson war geistreicher als jeder andere Ort, an dem ich je genächtigt habe. Als Hotel mit Restaurantbetrieb sorgte es für Umsatz, aber es war immer mehr als nur Herberge. Allwöchentlich am Donnerstag stiegen Konzerte im Ballsaal, sorgten für Glamour und feierten die prächtige haitianische Kultur in all ihrer Vielfalt. Meistens trat RAM, die Band von Richard Morse dafür in Aktion: Der Sound von RAM steht für rasin, ein genuin haitianischer Musikhybrid, getragen von rockigen Gitarrenklängen, upbeat Vodou drumming und spirituellen Texten mit politischen Botschaften. Nicht nur die Musik, auch das Publikum, ja, die ganze Atmosphäre im Ballsaal war elektrisierend.

Im Ballsaal haben da nie nur die Lebenden getanzt, ich schwöre!

In einem Land, dessen Bewohner in ständigem Austausch mit den Toten stehen, konnte man die Geister im Saal fast mit Händen greifen. Jedenfalls haben da nie nur die Lebenden getanzt, ich schwöre!

Interessante Gesprächspartner

Das Hotel war keineswegs zu komfortabel. Nachmittags wurde stundenweise der Strom abgestellt, die Luft schwirrte vor Stechmücken. Aber die weitläufige Veranda, die man durch die üppige karibische Vegetation schon von Weitem sah, war ein perfekter Ort, um aufzutanken. Man traf dort stets interessante Gesprächspartner.

Das Oloffson bestach auch als Ort, an dem Vodou-Zeremonien abgehalten wurden. Es diente als Safespace für LGBTQ und als Tanzschule, deren Performances im Gartenpavillon abgehalten wurden. Es war Galerie für avantgardistische haitianische Kunstausstellungen und ein Knotenpunkt, an dem die Einheimischen auf Be­su­che­r:In­nen aus aller Welt stießen.

Seine Lage am Rand des vornehmen Viertels Pacot, inmitten von Häusern in sogenannter Gingerbread-Bauweise, war günstig. Gingerbread, so wird jene charakteristische haitianische Prunkarchitektur des späten 19. Jahrhunderts genannt. Entwickelt von lokalen Handwerkern, bestehen die Häuser aus zwei bis drei Stockwerken in Holzbauweise. Sie sind hurrikan- und ­erdbebensicher.

Dem verheerenden Erdbeben von 2010 fielen zahlreiche jüngere Bauwerke zum Opfer, wie etwa das Hotel Montana, das zusammenfiel wie ein Kartenhaus und seine Gäste unter sich begrub. Das Oloffson und seine handgezimmerte Holzkonstruktion hielt der Naturkatastrophe stand. Jetzt ist es Geschichte: Durch den immer brutaleren Gangkrieg, der das schon geschundene Haiti restlos zerstört, wurde auch diese Legende getilgt.

Lunise Exumé und Richard A. Morse bei einem Konzert mit RAM im Exil Foto: Tequila Minsky

Gebaut für einen zukünftigen Präsidenten

Das Haus hat eine bewegte Geschichte. Erbaut 1887 von Demosthenes Simon Sam als Villa für seinen Vater Tiresias, der später zum Präsidenten Haitis gewählt wurde. Ein weiteres Familienmitglied, Jean Vilbrun Guillaume Sam, amtierte ebenfalls als haitianischer Präsident, bis er 1915 von einem aufgebrachten Mob in Stücke gehackt wurde, als unrühmliches Vorspiel zu einer 19-jährigen Besatzung Haitis durch US-Militär. Währenddessen wurde die Villa von der US-Militärverwaltung als Krankenhaus zweckentfremdet.

Nach Ende der Besatzung, 1935, kam die Umwandlung zum Hotel unter dem Namen des ersten schwedischen Pächters Oloffson. Sein Name blieb erhalten, obwohl das Hotel danach von unterschiedlichen Pächtern betrieben wurde. Schon in den späten 1930ern war es berühmt. Noël Coward und Charles Addams ließen sich von der Atmosphäre des Hauses zu Theaterstücken inspirieren.

De rigeur wurde das Oloffson Ende der 1940er, als Massentourismus in Haiti einsetzte. Dies blieb nicht lange so. Nachdem der gefürchtete Diktator Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier 1971 ins Präsidentenamt kam, ging es mit Haiti bergab. Baby Doc, der seinem gleichfalls brutalen, ab 1957 regierenden Vater folgte, konnte sich 15 Jahre an der Staatsspitze halten. Er bereicherte sich an den Schätzen seines Landes, bis er 1986 vor dem Zorn der Haitianer von der Insel flüchten musste.

Auch eine Familiengeschichte

Im gleichen Jahr übernahm Richard Morse das damals marode Hotel, zunächst als Pächter. Er glaubte an eine rosigere Zukunft Haitis und kaufte das Gebäude alsbald. Der zweisprachig aufgewachsene Morse verbindet mit dem Oloffson sehr persönliche Erinnerungen. Die Familiengeschichte ist verzweigt, Vater Richard McGee Morse ist ein bekannter US-Hispanist, Mutter Emerante de Pradines ist eine haitianische Volkssängerin mit durchdringender Stimme. Richards Opa Auguste, Spitzname Candio, durfte als erster Mensch öffentlich die haitianische Nationalhymne intonieren.

„Mir war das Hotel kein Begriff, bis mich meine Mutter 1982 dorthin mitnahm,“ erzählt Morse der taz. Das Haus sei bereits in Familienbesitz, erfuhr er von ihr, konnte die Aussage nicht einordnen, bis ein Geheimnis ans Licht kam. Einige Jahre vor ihrer Heirat mit Richard McGee Morse wurde Emerante de Pradines Mutter eines Sohnes – Max, Halbbruder von Richard Morse. Vater ist Jean Sam, Sohn von Architekt Demosthenes. Er war rechtmäßiger Besitzer des Oloffson.

Schon damals brodelte die Gewalt auf den Straßen. Man hörte nahe des Hotels Gewehrsalven

Richard Morse dachte 1986 ganz uneigennützig, in Zeiten von gestiegenem Interesse für Global Pop, wäre es sinnvoll, haitianische Rhythmen zu erlernen. Vor Ort in Port-au-Prince musste er bald lernen, dass traditionelle haitianische Musik bedeutungslos ist ohne Kenntnis der dazugehörigen Riten. Also arbeitete er sich in die Musikkultur ein, bis er schließlich zum houngan asogwe ernannt wurde, zum mächtigsten Ritualexperten, den es auf Haiti gibt. „Ich transferierte von der akademischen Welt meines Vaters, hinüber in die spirituelle Welt meiner Mutter.“

Labor eines fortschrittlichen ­Haiti

Das wiederbelebte Oloffson entwickelte sich ab Ende der 1980er zur kulturellen Keimzelle. Wobei sich traditionelles Musikschaffen hier immer mit Experimentierfreude tummelte und mit der übersinnlichen Praxis des Vodou eine kunstvolle Liaison einging. So wurde das Hotel zum Labor eines fortschrittlichen ­Haiti, was nach Duvaliers Flucht von Demokratie und Selbstbestimmung, Freiheit und Schönheit träumte.

Zum Autor

Ned Sublette lebt und arbeitet als Autor und Musiker in New York. Er kennt Richard Morse seit einem Interview 1992.

Eunica Marseille hat zu seinem Text aus Port- au-Prince beigetragen.

Aus dem Englischen von Julian Weber

Morse war weniger daran gelegen, ein Hotelimperium aufzubauen. Seine Leidenschaft lag auf dem Feld der Musik. Es gab eine Tanzgruppe, Shango, die regelmäßig im Oloffson gastierte. Deren 19-jährige Leiterin Lunise Exumé heiratete Richard 1989. Zur Rhythmussektion von Lunise kam nun die rockige Gitarre von Richard Morse. Bald zählten sie zur mizik rasin-Szene, deren rebellische Attitüde dem neuen Haiti eine musikalische Form gab, zusammen mit Bands wie Group Sa, Foula und Boukman Esperyans. Als Sängerin und Tänzerin von RAM ist Lunise inzwischen Ikone aller Haitianerinnen zu Hause und in der dyspwa (Diaspora). Die beiden haben 35 Jahre ihres Lebens in das Oloffson investiert.

Nicht zu vergessen, das Oloffson sorgte für dringend benötigten Sauerstoff in Port-au-Prince. Oberhalb, am Berg, liegt das abgeschottete Reichenviertel Pétionville, unten auf Seehöhe ist das Armenviertel Cité Soleil. Genau dazwischen befand sich das Oloffson, mit einer atemberaubenden Blick auf die Stadt und das nahe Meer. Sein Gebäude war umgeben von Natur, eine Oase, die buchstäblich für frischen Wind sorgte. Da das Gebäude originalgetreu blieb, war auch die Natur nahezu unberührt geblieben, üppig wuchernd und gespickt mit Vodou-Insignien.

Zwischen all den Geistern, die auf dem Grundstück hausen, wuchsen viele Bäume. Während in Port-au-Prince immer drastischer gerodet wurde, um Platz zu schaffen für die improvisierte Zementarchitektur und die Luft erfüllt war von Kohlenstaub, Holzfeuern und Abgasen, blieb das großzügige Oloffson-Gelände eine dringende Erinnerung, an ein Haiti, das nach Ende der Sklaverei 1801 einst blühende Nation gewesen war.

Bei der jährlich stattfindenden Fèt Gede im Oloffson, einem Musikfestival, das Morse dem Gott der Toten gewidmet hat, stand ich 2018 als Mitglied der New Orleans Preservation Hall Jazzband auf der Bühne. Die Hausband RAM spielte mit uns eine Kombination aus New-Orleans-Second-Line-Beat und traditionalistischer rara-Musik. Es sollte die letzte Festivalausgabe im Oloffson bleiben. Bis dahin galt das Hotel trotz aller politischen Umstürze, Aufstände und Generalstreiks als Zufluchtsort. Aus und vorbei.

Schon damals brodelte Gewalt auf den Straßen. Man hörte nahe dem Hotel Gewehrsalven, schwarze Rauchsäulen stiegen in die Luft. Nach Ausbruch der Coronapandemie musste das Oloffson 2020 schließen, etwa gleichzeitig hörten die letzten Säulen der haitianischen Verwaltung zu funktionieren auf, das Land wurde zum gescheiterten Staat. Damit lag auch das Hotelbusiness am Boden. Die Bandmitglieder von RAM konnten nicht mehr in Sicherheit arbeiten und gingen nach New Orleans ins Exil.

Ohne Security, ohne Instandhaltungspersonal – da zu gefährlich – blieben Grundstück und Gebäude seit Jahresbeginn 2025 sich selbst überlassen, erklärt Richard Sénécal. Gangs drangen ein, niemand hat sie daran gehindert. Ein haitianischer Nachrichtensender fragte Morse, ob er weiß, wer sein Hotel niedergebrannt habe. „Interessiert mich nicht. Schlimm genug, dass wir über Hotels reden müssen, anstatt darüber, was eigentlich im Land vor sich geht. Alle Haitianer leiden, viele kommen gewaltsam ums Leben. Frauen werden gezielt vergewaltigt und wir reden über ein Baudenkmal! Aber wenn ein Hotel die Menschen wenigstens dazu bringt, dass sie über das Schicksal von ­Haiti nachdenken, von mir aus.“

Ich habe Morse selbst gefragt, ob er an eine Rückkehr nach Haiti glaubt. „Wie sollte ich nicht zurückgehen wollen? Ich kann der Wahrheit nicht entfliehen.“

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