Gerichtsurteil zu Abschiebungen: (R)eintreten jetzt verboten
Verwaltungsgericht rügt Land Berlin: Die Praxis der Polizei, bei Abschiebungen ohne Richterbeschluss in Wohnungen einzudringen, sei rechtswidrig.
Mit diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht Berlin vergangene Woche der Klage eines jungen Mannes aus Guinea gegen das Land Berlin in Teilen stattgegeben. In einem zweiten Punkt wies Richterin Ennsberger jedoch die Klage ab: Die Sicherstellung von Mobiltelefonen, Kopfhörern und Portemonnaies durch die Polizei sei rechtmäßig, da diese Gegenstände geeignet seien, sich selbst oder andere zu verletzen (VG 10 K 383.19).
Für den Berliner Rechtsanwalt Christoph Tometten, der den 22-jährigen Kläger vertritt, ist das in der vorigen Woche schriftlich ergangene Urteil, das der taz exklusiv vorliegt, eine wichtige Klarstellung zu den Rechten Geflüchteter. Der taz sagte Tometten: „Das Urteil des Verwaltungsgerichts stellt fest, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die Polizei hat auch bei der Durchführung von Abschiebungen das Grundgesetz zu achten.“ Damit schließe sich das Gericht der jüngsten Rechtsprechung aus Hamburg an. „Daraus muss die Innenverwaltung nun umgehend Konsequenzen ziehen und der bisherigen Praxis ein Ende setzen“, fordert der Anwalt.
Zugleich bedauert Tometten, dass das Gericht nichts dagegen habe, dass Menschen vor ihrer Abschiebung die Handys weggenommen werden. „Es erschwert den Rechtsschutz, wenn die Betroffenen so nicht rechtzeitig ihren Anwalt kontaktieren können. Zur Mobilisierung von Fluchthelfern, die sich der Polizei in den Weg stellen würden, taugt das Mobiltelefon in aller Regel nicht. Auch die Ansicht des Gerichts, Mobiltelefone seien generell geeignet, sich oder andere zu verletzen, ist abwegig.“
Berufung zur „Handy-Frage“ angekündigt
Bei der mündlichen Verhandlung Ende September war durch die Aussage des Einsatzleiters der Polizei deutlich geworden, dass diese Praxis häufig, wenn nicht gar der Regelfall ist. Zwar habe er selbst kein Handy an sich genommen, erklärte der Beamte, aber er wisse, dass die Ausländerbehörde „das gerne sieht“. Tometten kündigte gegenüber der taz an, gegen die Teilabweisung der Klage zur „Handy-Frage“ Berufung einzulegen.
Abschiebungen aus Wohnungen beziehungsweise Flüchtlingsheimen sind inzwischen die Regel. Die Polizei kommt gerne überraschend in der Nacht oder am frühen Morgen – und in Berlin, anders als in anderen Bundesländern, nie mit richterlichem Durchsuchungsbefehl. Im rot-rot-grünen Senat hatte dies 2019 zum Krach zwischen Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke) geführt. Letztere hatte den Betreibern von Flüchtlingsheimen per Vermerk erklären lassen, ohne Vorlage eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses müssten sie die Polizei nicht einlassen.
Für Geisel war dies ein Affront, zumal es in der Folge zu einigen Strafanzeigen gegen Polizist*innen kam. Offenkundig auf Druck der Berliner SPD war dann im Sommer 2019 in das Geordnete-Rückkehr-Gesetz von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ein Passus aufgenommen worden, der die Sache im Sinne Geisels zu klären schien. Die Polizei dürfe Wohnungen zum Zwecke der Abschiebung „betreten“ (Aufenthaltsgesetz §58, Abs. 5), eine „Durchsuchung“ bedürfe der Richteranordnung (Abs. 6 und 8).
Viele Jurist*innen, darunter der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, halten jedoch die Unterscheidung von Betreten und Durchsuchen, auf die sich auch Geisel beruft, für fragwürdig, wenn es um die Ergreifung einer Person geht.
„Ramme“ als Türöffner
Warum, zeigt auch der aktuelle Fall: Am 10. September 2019 sollte der Kläger Ibrahim K. als Dublin-III-Fall nach Italien zurückgeschoben werden. Dafür kam die Polizei an diesem Morgen gegen 8 Uhr in das Flüchtlingsheim Alfred-Randt-Straße in Köpenick. Dort lebte K. mit Mory T., der ebenfalls als Zeuge aussagte, in einem Zweibettzimmer. Als sie auf das Klopfen der Sozialarbeiterin und der Polizei nicht öffneten, holten die Beamten eine „Ramme“ und verschafften sich mit Gewalt Zutritt.
Die Beamten ließen sich die Ausweise der Männer zeigen, K. wurde erklärt, er würde abgeschoben und müsse packen. Er und sein Zimmergenosse sagten aus, K.s Handy, Portemonnaie und Kopfhörer hätten die Polizisten an sich genommen. Die vernommenen Polizisten konnten dies zumindest nicht ausschließen. Am Flughafen wurde K. freigelassen, weil er erklärte, er sei mit der Abschiebung nicht einverstanden. Man gab ihm seine Besitztümer zurück. Bis heute lebt er in demselben Heim, inzwischen als Asylbewerber, da die Frist der Überstellung nach Italien kurz nach dem Vorfall abgelaufen war.
Um die Frage, warum die Polizei erst mit viel Aufwand einen Mann abholt, um ihn dann am Flughafen ohne viel Federlesens freizulassen, ging es vor Gericht nicht. Es ging um den Unterschied zwischen Betreten und Durchsuchen. Der Einsatzleiter erklärte, man habe nichts durchsuchen, den Gesuchten auch nicht suchen müssen. Für diesen Eventualfall habe er eine Richternummer auf seinem Dienst-Handy – diese aber noch nie benutzt, gab er zu.
Der Richterin kam es allerdings weniger darauf an, was die Beamten tatsächlich taten, sondern was sie im Vorhinein zu erwarten hatten. Konnten sie um 8 Uhr morgens davon ausgehen, dass der Gesuchte in seinem Zimmer war? Nein, so die Richterin, er hätte bei der Arbeit sein können oder irgendwo anders im Heim. Zudem wohnte im Zimmer noch jemand, auch da hätte man also womöglich nach der richtigen Person suchen müssen. Es sei daher von einer Durchsuchung auszugehen – für die der Richterbeschluss fehlte.
Künstliche Unterscheidung durch Politik
Martina Mauer vom Berliner Flüchtlingsrat begrüßte das Urteil. „Ausländerbehörde und Polizei müssen nun ihre rechtswidrige Praxis beenden und ab sofort vor jeder Abschiebung einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss einholen.“ Für die rechtspolitische Referentin von Pro Asyl, Wiebke Judith, zeigt das Urteil zum einen, dass auch Zimmer in Flüchtlingsheimen „Wohnungen im Sinne des Grundgesetzes und entsprechend geschützt sind“. Zudem sei die künstliche Unterscheidung von Betreten und Durchsuchen, „die von der Großen Koalition im letzten großen Verschärfungsgesetz 2019 eingeführt wurde, nicht haltbar“. Der Gesetzgeber müsse nachbessern, fordert sie von der nächsten Bundesregierung.
Die Innenverwaltung erklärte am Montag auf taz-Anfrage, man prüfe derzeit das weitere Vorgehen, könne daher in der Sache noch keine inhaltliche Erklärung abgeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung