Genossen feiern Geburtstag: Tausend Jahre SPD

Es gibt sie noch: Genossen, die der Partei treu sind. Die ihr Leben an ihr ausrichten. Die Urbans sind Sozialdemokraten in der fünften Generation.

Drei der fünf Generationen: Gisela und Lothar Urban, Sohn Steffen, Tochter Julia und zwei Enkelinnen. Bild: Andreas Teichmann/Laif

Es regnet schon wieder. Aus tief hängenden Wolken fallen Tropfen auf einen unscheinbaren Flachbau aus den Siebzigern. Ein kalter Film überzieht Tischtennisplatten, Rutsche und Gras. Im Flachbau steht ein Mann am Fenster, betrachtet die Szenerie, lächelt und sagt zufrieden: „Is schön hier, nä?“

Lothar Urban hat eine Gabe. Der 62-Jährige, ein Mann mit ergrauendem Schnurrbart, breitem Kreuz und kräftiger Stimme, kann Menschen überzeugen. Er kann das, weil er selbst an etwas glaubt. Wo andere nur das von ihm geleitete Salvador-Allende-Bildungszentrum in Oer-Erkenschwick sehen, sieht Urban einen wahr gewordenen Traum. Den Traum von unbeschwerter Freizeit für Jugendliche aus armen Familien.

Und wo andere den wirtschaftlichen Niedergang einer Region sehen, soziale Probleme und schlechtes Wetter, sieht er die Chance, etwas besser zu machen. Mal abgesehen vom Wetter. Vor allem aber glaubt Lothar Urban an die SPD.

„Hab ich überhaupt Freunde außerhalb der Partei?“ Lothar Urban guckt nachdenklich, als stelle er sich die Frage zum ersten Mal. Dabei ist er seit 45 Jahren Mitglied. Sein Blick geht auf die hölzerne Wandvertäfelung. „Die Helga und der Bodo! Et könnte sein, dat die ausgetreten sind, als ich den Ortsverein gewechselt hab.“

Die Partei als Familie

Vor ihm liegt ein Aktenordner mit alten Zeitungsberichten, auf dem Deckel steht „SPD“. Abgeheftet ist auch ein Brief von Johannes Rau, er stammt von 1989. Der Ordner ist ein Familienalbum für eine Partei.

Urban klemmt ihn sich unter den Arm und geht zum Parkplatz. Feierabend im Jugendheim, einer Einrichtung der „Falken“. Die linke Jugendorganisation steht der SPD nahe, wie alles in Urbans Leben. Doch Feierabend hat er noch lange nicht. Etwas in ihm treibt ihn immer weiter: noch ein Ehrenamt, noch ein Kinderfest. Durch den Nieselregen fährt er zurück nach Gelsenkirchen.

Vielleicht muss man so sein, um einer Partei die Treue zu halten, die eine große Vergangenheit hat, aber feststeckt in einer trüben Gegenwart. Die SPD feiert ihren 150. Geburtstag zu einer Zeit, in der ihr kaum jemand zutraut, noch einmal stärkste politische Kraft zu werden. Die Umfrageergebnisse sind mies, der Kanzlerkandidat ist umstritten, die Agenda 2010 noch immer nicht verwunden. Doch Lothar Urban kümmert das nicht.

Sein Leben dreht sich um die SPD: Er ist nicht nur Chef des Sozialistischen Bildungszentrums, sondern auch Vorsitzender der SPD-Bezirksfraktion in Gelsenkirchen-Mitte. Nebenbei organisiert er Reisen für Kinder und Jugendliche, arbeitet als Schöffe am Gericht, hat eine Stiftung gegründet, war in der Schulpflegschaft, und wenn der Frühling kommt, organisiert er Reinigungstrupps für Gelsenkirchens dreckige Straßen – am Wochenende. Sein Leben ist die SPD.

Kein Fan von Schröder

Urban lenkt den Wagen auf die Autobahnabfahrt, gleich ist er zurück in Gelsenkirchen. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Hat er nie an Austritt gedacht, etwa in der Entstehungszeit der Agenda 2010? „Warum? Solange es Dinge gibt, zu denen man stehen kann, ist das okay.“

Zwar war er einst ein Fan der linken Heidemarie Wieczorek-Zeul, nicht des Parteirechten Gerhard Schröder. Aber selbst für dessen spätere Agenda-Politik findet Urban heute freundliche Worte. Wäre die SPD eine Kirchengemeinde, wäre er eine Art Kaplan. Er predigt nicht die Erlösung der Menschheit, er organisiert das Hier und Jetzt.

Und tatsächlich erfüllt die SPD in Gelsenkirchen für viele Funktionen, die anderswo die Kirchen übernehmen. Sie ist eine Welt für sich. Wer sie nicht verlassen will, muss es nicht, sie gibt einem ja alles, vor allem das Gefühl, dazuzugehören.

Die Urbans sind Sozialdemokraten in fünfter Generation. Schon beide Großeltern Lothar Urbans, mütterlicher- wie väterlicherseits, waren in der Partei. Opa Johann Urban kam aus Ostpreußen ins damals florierende Ruhrgebiet. Lothars Onkel und Tanten waren alle SPD-Mitglieder, „dat ging gar nich anders“.

Sieben Enkelkinder

Tochter Julia ist in der Partei, Sohn Steffen leitet ein Jugendheim der Falken in der Nähe. Der andere Sohn ist nicht in der Partei, aber Gewerkschafter, immerhin. Um die Mitgliedschaften seiner sieben Enkelkinder kümmert sich der Großvater persönlich. Unterm Strich kommen die fünf Generationen der Urbans wohl auf 1.000 Jahre Parteimitgliedschaft.

Urban fährt vorbei an Industriebrachen und einer abgebrannten Aldi-Filiale. An den grauen Hausfassaden hängt noch der Ruß längst stillgelegter Kohlekraftwerke. „Der Laden da hat auch zugemacht“ sagt Urban, „et hält sich hier nix.“

Gelsenkirchen war einmal eine florierende Stadt. Ende der 1950er lebten fast 400.000 Menschen hier. Heute sind es noch rund 260.000, und es werden immer weniger. Die Arbeitslosenquote liegt konstant über dem Landesdurchschnitt, im März waren es 12,5 Prozent.

Urban parkt seinen Wagen nahe dem Hauptbahnhof, eilt durch die Fußgängerzone zu einem Fünfziger-Jahre-Bau. In einem fensterlosen Raum, Teppichboden, niedrige Decken, Kekse aus der Dose, beginnt die Sitzung der SPD-Bezirksfraktion Gelsenkirchen-Mitte.

Das Gefühl, gebraucht zu werden

Die Partei hat hier wie im Stadtrat die Mehrheit. Die Genossen machen Scherze. Dass „Lothar“ pünktlich zur Sitzung erscheine, sei ja noch nie vorgekommen. Er lächelt, es freut ihn, im Zentrum zu stehen, gebraucht zu werden.

Als Lothar jung war, war sein Vater Heinz das Kraftzentrum der Familie, ein mächtiger Mann innerhalb der mächtigen Ruhr-SPD: 13 Jahre Mitglied des Düsseldorfer Landtages, Gesamtbetriebsratschef der Thyssen-Gießereien in Westeuropa. Zur Feier der Geburt seiner ersten Enkelin gab er den Arbeitern im Gussstahlwerk Gelsenkirchen für den Rest des Tages frei. So erzählt es der Sohn voller Stolz. Und fügt hinzu: „Der war viel wichtiger als ich.“

Heinz Urban starb 1977. Der Sohn, der heute älter ist, als sein Vater je war, versucht noch immer, seinem Erbe gerecht zu werden. Die vom Sohn gegründete Stiftung trägt seinen Namen.

Lothar Urban steht für die bundesrepublikanische Ära der SPD. Er wurde 1950 geboren, ein Jahr nach der Staatsgründung. Als Kind bekam er 5 Mark „Maigeld“. Dafür musste er bei Demonstrationen am 1. Mai mitmarschieren, eine Fahne tragen. Niemand fragte, ob das Kind andere Hobbys hatte.

Aufstieg durch Bildung

1968, im Jahr der Studentenrevolte, trat er der Partei bei. Ein Revoluzzer war er nicht, er ging zur Bundeswehr, studierte Betriebswissenschaft. Die SPD stand für ein großes Versprechen: sozialer Aufstieg durch Bildung. Wegen Willy Brandt sei er Mitglied geworden, sagt er. Aber wohl auch, weil alles andere schlicht unmöglich gewesen wäre. Nicht gegen den Willen der Eltern, der Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern, Kollegen und Freunde.

Als Kassierer im Ortsverein klapperte der junge Urban 50, 60 Haushalte ab, um eine Mark pro Monat und SPD-Mitglied einzusammeln. Viele mussten sich das Geld vom Munde absparen. Urban lernte, wie viel Armut es gab im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik. Und dass nur eine Partei erfolgreich sein kann, die vor Ort präsent ist. „Wenn uns jemand anspricht, haben wir Sprechstunde.“ Die Genossen nicken. Heute verkauft die Parteispitze diese Erkenntnis als neuesten Trend aus den USA.

Eineinhalb Stunden lang reden die Genossen über Schlaglöcher und schleppende Bauanträge. Was sie verabreden, ist dank Mehrheit so gut wie beschlossen. Dann geht ein langer Arbeitstag zu Ende. Lothar Urban setzt sich wieder ins Auto, es geht nach Hause.

Kann er sich ein Leben ohne Parteiarbeit vorstellen? Urban schaut wieder so nachdenklich, als frage er sich das zum ersten Mal. „Nä“, sagt er und blickt auf die Straße. „Da müsst ich mich ja selbst verleugnen. Dann wär ja alles falsch gewesen, was ich gemacht hab.“ Dass die Partei etwas falsch gemacht haben könnte, dieser Gedanke kommt ihm nicht.

Gründervater Lassalle

Nach kurzer Fahrt parkt Urban seinen Wagen vor einem Flachbau. Rechts liegt seine Wohnung, in der er seit Jahrzehnten lebt. Links daneben erhebt sich das Ferdinand-Lassalle-Haus, auch ein Jugendheim der Falken. In gewisser Weise kommen hier Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Namensgeber Lassalle gründete 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Weil unter anderem aus ihm die SPD erwuchs, feiert die Partei in diesem Jahr ihren Hundertfünfzigsten.

Urban und seine Frau leben in der Hausmeisterwohnung. An der Küchenwand ist die gleiche Holzvertäfelung wie im Salvador-Allende-Haus. Ehefrau Gisela schenkt Cappuccino ein. Sie ist Kinderkrankenschwester, die beiden lernten sich 1970 in einer Disco kennen.

Als Lothars Vater die junge Frau aus dem katholischen Sauerland kennenlernte, sagte er ihr: „Wenn du den heiraten willst, musste erst inne Partei eintreten.“ Kurz darauf war sie SPD-Mitglied. Sie ist es bis heute. Auch sie arbeitet ehrenamtlich, seit Jahren ist sie Schöffin am Jugendgericht. Ihren Mann trifft sie schon mal im Gerichtssaal. Nebenbei ist auch er Schöffe.

Nur ein einziges Mal an diesem Tag ist Lothar Urban fast sprachlos. Mit Blick auf seine Frau sagt er laut: „Bodo und Helga sind nich in der Partei?“ „Nee“, antwortet Gisela Urban ruhig, „wir haben nich alle gezwungen.“

Religion Schalke 04

Tochter Julia setzt sich an den Küchentisch. Die Kindergärtnerin ist mit ihrer Tochter Jana auf einen Schwatz vorbeigekommen. Natürlich ist Julia Urban-Jost auch in der Partei. Dat geht gar nich anders. „Aber ich hab keine Lust, meine Wochenenden auf Parteiveranstaltungen zu verbringen. Bei uns ist der Erziehungsstil nich durch die Kirche geprägt.“ Weder durch die klassische Kirche noch die namens SPD. Ihre drei Kinder haben Hobbys statt Parteiverpflichtungen, sie müssen am 1. Mai keine Fahne tragen. „Unsere Religion“, sagt Tochter Julia, „ist Schalke 04.“

Die zwölfjährige Jana, eine Gymnasiastin, kommt an den Küchentisch. „Aber ich hab nix mit der Partei zu tun, oder?“, fragt sie. Ihre Mutter schaut sie an: „Womit bisse denn in Urlaub gefahren?“ Jana versteht nicht recht: „Na, mit den Falken.“ Kurze Pause, scheues Lächeln in die Runde: „Ach so.“

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