Generationskonflikte in Westafrika: Afrikanischer Herbst
Westafrika ist in Aufruhr. Nie schienen die Perspektiven der Jugend so blockiert wie heute, in einer Ära greiser Herrscher und globaler Abschottung.
W estafrika brennt. In Guinea toben Straßenschlachten nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Alpha Condé. In der Elfenbeinküste wächst die Angst vor einer Neuauflage des Bürgerkriegs, wenn am kommenden Samstag Präsident Alassane Ouattara ebenfalls für eine dritte Amtszeit kandidiert. Nigeria blickt mit Schrecken auf eine Woche der Gewalt zwischen der Armee und einer Jugendprotestbewegung zurück, die nach amtlichen Angaben 69 Tote forderte, und fragt sich, ob das erst der Anfang war.
Und in Mali hat die Armee vor zwei Monaten einfach selbst die Macht ergriffen. Vor fast zehn Jahren fegte der Arabische Frühling in Tunesien, Ägypten und Libyen die Diktatoren hinweg, wenngleich mit drei sehr unterschiedlichen Ergebnissen: einer holprigen Demokratisierung, einer neuen Diktatur, einem Bürgerkrieg. Seit dieser Zeitenwende fragen sich afrikanische Kommentatoren bei jeder Gelegenheit, wann es denn in Afrika südlich der Sahara so weit sein könnte. Selten lag die Antwort so nahe wie heute.
Die Gründe für die Unruhe in Mali, Guinea, der Elfenbeinküste und Nigeria sind unterschiedlich. In Guinea und der Elfenbeinküste geht es jeweils um eine von der politischen Opposition als illegal abgelehnte dritte Amtszeit der regierenden Präsidenten, und die Krisen entwickeln sich wie im Drehbuch:
Der Präsident tritt trotzdem an, die Opposition sieht darin eine gezielte Kampfansage, Scharfmacher beider Seiten heizen das Klima an, und beim Wahlsieg des Präsidenten, egal wie er zustande gekommen ist, eskaliert die Situation. Dabei sind die beiden Präsidenten Condé und Ouattara keine Diktatoren alten Schlags, sondern sie sind einst als bejubelte Reformer gegen die Diktaturen ihrer Länder angetreten.
Scharfmacher auf beiden Seiten heizen die Lage an
Und gerade das macht sie nach zehn Jahren an der Macht zu Sturköpfen, die fest davon überzeugt sind, dass ohne sie ihr ganzes zerbrechliches Reformwerk zerbröseln würde. Nigeria und Mali hat seine Diktatoren schon lange abgeschüttelt, aber in beiden Ländern haben die Nachfolgeregierungen enttäuscht, und beide werden heute wieder von ehemaligen Generälen regiert.
In Mali kann sich Übergangspräsident und Ex-General Ba Ndaw auf sehr viel mehr Respekt in der Bevölkerung stützen als der zwar gewählte, aber wenig geachtete zivile Präsident Ibrahim Boubacar Keita, der am 18. August von seinen eigenen Generälen verhaftet wurde.
ist seit 1990 Afrika-Redakteur der taz und leitet heute zusammen mit Barbara Oertel das Ausslandsressort. Seine Kolumne „afrobeat“ erscheint an dieser Stelle seit 2014 etwa alle sechs Wochen.
In Nigeria gewann Muhammadu Buhari, ein Ex-Diktator aus den 1980er Jahren, die Wahlen 2015 nach sechzehn Jahren unfähiger ziviler Vorgänger mit dem Versprechen, endlich aufzuräumen mit islamistischem Terror und staatlicher Korruption, und 2019 wurde er wiedergewählt. Doch Buhari hat sich nicht als der zielstrebige Reformer erwiesen, den die Nigerianer sich gewünscht hatten, und jetzt sieht er sich mit der stärksten zivilen Protestbewegung seit den Zeiten des Widerstands gegen die Militärherrschaft konfrontiert.
Nigerias Staat zeigt durch den Einsatz von schießwütigen Soldaten und bezahlten Schlägern erneut sein altvertrautes hässliches Gesicht aus finsteren Zeiten. Der Bruch zwischen alter Elite und junger Gesellschaft scheint in Nigeria irreparabel. Und wenn der 77-jährige Buhari in Nigeria auf seine alten Tage wieder zum verständnislosen Autokraten mutiert, was wird der 70-jährige Ba Ndaw machen, sollte Malis Jugend ihn irgendwann nicht mehr für einen Heilsbringer halten?
Werden der 78-jährige Ouattara und der 82-jährige Condé, die sich für unfehlbar halten, jemals noch eine gemeinsame Sprache mit ihrer Jugend finden? Oder werden sie alle vier ständig ihren politischen Nachwuchs beschimpfen und gar nicht merken, dass ihre Völker ihnen längst davongelaufen sind – wenn nicht physisch, dann geistig, mit eigenen Strategien zum Überleben jenseits der Wahrnehmung der Greise in den Palästen? Und wie wird die Jugend darauf reagieren?
Die Unruhe auf den Straßen von Lagos und Bamako, von Abidjan und Conakry ist ein Wetterleuchten vor einer strukturell unruhigen Zeit, die sehr gefährlich werden könnte. Westafrika ist die jüngste Region der Welt, das Durchschnittsalter seiner 400 Millionen Einwohner liegt bei 18 Jahren. Jedes Jahr kommen 10 Millionen dazu – zehnmal mehr als in der EU, in der 440 Millionen Menschen leben.
Arbeitslosigkeit und Armut nehmen dramatisch zu
Das Bruttoinlandsprodukt aller Länder Westafrikas zusammengenommen ist allerdings kleiner als das der Schweiz. Die Volkswirtschaft Nigerias mit 200 Millionen Einwohnern ist nur wenig größer als die Irlands mit vier Millionen. Nur eine Minderheit aller Schul- und Hochschulabgänger Westafrikas hat bezahlte Arbeit, von der man leben kann. Die Emigrationswege in den Rest der Welt sind versperrt, dafür hat die EU gesorgt.
Und es ist sicher kein Zufall, dass Westafrikas politische Krise mit der schwersten Wirtschaftskrise dieses Jahrhunderts zusammenfällt, hauptsächlich – aber nicht ausschließlich – aufgrund der Coronapandemie. Obwohl Westafrika vergleichsweise wenig von diesem Virus betroffen ist, hat die faktische Aussetzung der Globalisierung zwecks Pandemiebekämpfung die Region voll getroffen.
Grenzen sind geschlossen, Waren- und Personenverkehr kommen zum Erliegen, der Außenhandel stockt, die Wirtschaft erlahmt, Staatseinnahmen sinken, die Schuldenlast wächst, Preise steigen, Einkommen schrumpfen. Millionen von Menschen, die knapp über dem Existenzminimum lebten, rutschen nun darunter. Nigerias offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 27 Prozent mit steigender Tendenz, die Mehrheit aller Menschen im arbeitsfähigen Alter hat keine oder nur sporadische Arbeit.
Anderswo in Westafrika sieht es nicht besser aus. Was sollen diese Menschen machen? Mit Begeisterung jubeln, wenn ihnen uralte Staatschefs Moralpredigten halten?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!