Generalstreik in Indien: Keine Landwirte, kein Essen
In Indien blockieren Kleinbauern Straßen und Schienen. Sie protestieren gegen die Agrarreform. Die Angst ist groß, Konzernen ausgeliefert zu werden.
„Die neuen Agrargesetze werden unsere Familienbetriebe zerstören“, fürchtet Sandeep Singh von der überparteilichen Bauernvertretung „Bhartiya Kisan Union“ (Dakonda) aus Mansa Punjab, 250 Kilometer entfernt von Delhi.
„Die Regierung ist bereit, alles zu verkaufen. Zuerst haben sie die Eisenbahn und den Flughafen veräußert, jetzt haben sie ein Auge auf unser Farmland geworfen, aber das werden wir nicht zulassen“, sagt er der taz. „Diese Gesetze werden nur Kapitalisten wie Ambani und Adani Vorteile bringen. Wir werden auf friedliche Weise kämpfen und die Regierung dazu bringen, unserer Forderung zuzustimmen.“
Mit ihnen blockieren weitere TeilnehmerInnen am Dienstag in ganz Indien Straßen und Schienen. Sie fordern die Rücknahme der Agrarreformen. „Keine Landwirte, kein Essen“ ist ihr Leitspruch. Auch Verwandten des Biobauern Anurag Randhawa aus der Nähe der nordindischen Millionenstadt Amritsar sind in Delhi. „All die Probleme, die wir seit Jahren haben, sind jetzt hochgekommen“, sagt Randhawa. Gerade kleinen Bauern fehle es an Maschinen zur Bewirtschaftung, sodass sie die Felder vor der neuen Saat abbrennen müssen.
Auch fehle vielen das Wissen, wie sie ihre Produkte zu fairen Preisen verkaufen können. Bisher gibt es einen garantierten Mindestpreis für Reis und Weizen, aber eben nicht für alle Erzeugnisse, ergänzt der 20-jährige Randhawa. Viele seiner Anbausorten sind lokal und werden deshalb nicht gelistet. Die Befürchtung ist, dass durch die Privatisierung der Landwirtschaft auch diese Sicherheit wegfällt. Für Regionen wie das Pandschab wäre das fatal. Ohne Zweifel braucht es Reformen in Indien, dafür sprechen nicht nur die vielen Suizide unter Landwirten. (Auf der Mehrheit der Landwirte lastet ein Kredit, sagt Randhawa.)
Privatfirmen bevorzugt
Doch das Misstrauen gegenüber den Neuerungen wächst, seitdem sie im September unter Protest im Parlament durchgewinkt wurden. Die Deregulierung kommt Privatfirmen zugute. An sie Land zu verpachten, soll verschuldeten Kleinbauern kurzzeitig helfen. Ob es allerdings eine Sicherheit für die eigentlichen Besitzer gibt, ist ungewiss. Die Verunsicherung ist groß. Randhawa weiß, wer Richtung Hauptstadt gezogen ist, ist von der Landwirtschaft abhängig und viele sind aufgebracht. Die Regierung habe sie nicht mit einbezogen bei ihren neuen Gesetzen.
Premier Narendra Modi von der hindunationalistischen BJP erklärte, man könne das neue Jahrhundert nicht mit Gesetzen aus dem vergangenen gestalten. Fünf Verhandlungen zwischen Zentralregierung und Bauernvertretern scheiterten bereits. Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar (BJP) verteidigt die Agrarreform als „Game Changer“. Genau davor haben die Bauern Angst: dass künftig Großkonzerne die Spielregeln angeben und Preise drücken, wenn sie direkt mit Abnehmern verhandeln und staatliche Großmärkte mit ihren Garantiepreisen als Zwischenschritt wegfallen.
Der landesweiten Streik am Dienstag unterstützen zahlreiche Gewerkschaften. Die Lebensmittelgroßmärkte sowie einige Geschäfte blieben geschlossen. In Punjab wurden unter anderem Mautstationen blockiert. „Wo immer die Bauerngewerkschaft stark ist, versperren sie den Weg zu vom Multikonzern Reliance (zugehörig zu Ambani) betriebenen Tankstellen und Supermärkten“, sagt Anurag Randhawa.
Unter Hausarrest
Neben den benachbarten Agrarstaaten Haryana und Punjab ziehen andere Bundesstaaten nach, vor allem jene, die in Opposition zur Zentralregierung (BJP) stehen wie West-Bengalen, Maharashtra oder Telangana. Delhis Regierungschef Arvind Kejriwal (AAP), der dem Streik Unterstützung zusagte, wurde am Dienstag nach Aussagen seiner Partei von der Polizei unter Hausarrest gestellt. Die Protestierenden hoffen, dass sie mit der Unterstützung durch den Generalstreik nun bessere Karten haben, um in neue Verhandlungen zu gehen.
Trotz der harschen Reaktion der Zentralregierung gegenüber vielen Bauern, bleibt Randhawa optimistisch. „Muslime, Hindus, Sikhs, Männer und Frauen mit unterschiedlicher Herkunft sind in Delhi zusammengekommen. Das ist ein positives Zeichen“. Er hofft, wenn so viele für die Bauern einstehen, dass sie doch etwas erreichen können.
Vor allem die Lage im Bundesstaat Bihar ist eine Warnung. Dort wurde der Mindestpreis bereits abgeschafft. Bauern müssen ihre Erzeugnisse jetzt zu Schleuderpreisen verkaufen und als Tagelöhner in andere Bundesstaaten ziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“