Gegen die Polarisierung: „Stereotype sind toxisch“

Der Sozialwissenschaftler Jan Voelkel forscht zur Frage, was gegen gesellschaftliche Polarisierung hilft. Er hat einen Werkzeugkasten mit 25 Maßnahmen entwickelt.

Biertrinker stoßen an.

Manchmal hilft es, ein Bier miteinander zu trinken. Na dann Prost! Foto: Mila Pavan/Agentur Focus

wochentaz: Herr Voelkel, Sie leben seit sechs Jahren in den USA. Wie macht sich die Polarisierung in Ihrem Alltag bemerkbar?

Jan Voelkel: Ich wohne in San Francisco. Die Gruppe, mit der ich mich hier umgebe, ist politisch relativ homogen. Mein Eindruck ist, dass Leute mit ähnlichen Einstellungen häufig unter sich bleiben. Wenn meine amerikanischen Freundinnen und Freunde dann über die Feiertage nach Hause fahren, sind manche nervös, weil es am Familientisch unterschiedliche Meinungen gibt und sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Spaltung verläuft quer durch die Familien. Sie spielt sogar beim Dating eine Rolle, jemand mit einer anderen politischen Meinung kommt für viele als Partner nicht in Frage. Eine andere politische Meinung kann auch zu Nachteilen im Job führen.

Inwiefern?

Experimente haben gezeigt, dass die Frage, wen eine Firma einstellt, nicht nur vom Potenzial der Kandidaten abhängt, sondern auch politische Sympathien eine Rolle spielen. Die Spaltung betrifft also sehr viele Bereiche.

Die Deutschen haben lange verwundert in die USA geschaut, wie sehr sich Republikaner und Demokraten anfeinden. Inzwischen verhärten sich auch hierzulande die Fronten. Der Hass auf die Ampel und auf das politische System hat zugenommen. Sind wir auf dem Weg zu amerikanischen Verhältnissen?

In Deutschland ist es etwas anders als in den USA. Es gibt viele verschiedene Parteien. Die Kluft zwischen CDU- und SPD-Anhänger*innen ist in den letzten Jahren nicht größer geworden, zeigen Studien. Seit der Entstehung der AfD muss man allerdings feststellen: Die An­hän­ge­r*in­nen der AfD und die der anderen Parteien stehen sich sehr kritisch gegenüber. Hier gibt es schon eine klare Spaltung: Entweder man ist für oder gegen die AfD.

Jan Voelkel, 32, hat in Köln und den Niederlanden Sozialwissenschaften und Sozialpsychologie studiert. 2018 ging er in die USA an die Stanford University. Dort promoviert er zur Frage, was gegen die Polarisierung hilft. Er ist auch Teil des „Polarization and Social Change Lab“ der Stanford University.

Die Polarisierung macht vielen Menschen Sorgen. Sie forschen an der Stanford University zu der Frage, was man tun kann gegen politische Feindseligkeit und antidemokratische Einstellungen. Wie genau gehen Sie dabei vor?

Wir haben in unserer Forschungsgruppe Maßnahmen getestet, die der Polarisierung entgegenwirken. Dann dachten wir: Diese Frage ist so wichtig, wir sollten sie größer angehen. Mit dem Thema beschäftigen sich ja nicht nur Soziolog*innen, sondern auch Leute in der Politikwissenschaft oder der Ökonomie. Es gibt in den USA zudem sehr viele Initiativen, die Brücken bauen zwischen den verfeindeten Lagern. Sie alle haben wir dazu aufgerufen, Ideen einzureichen, was gegen die Polarisierung helfen könnte.

Und?

Der Rücklauf war toll, insgesamt 252 Ideen wurden eingeschickt. 25 haben wir ausgewählt, darunter Videos, Online-Spiele, auch eine Meditation. Wir haben sie im April und Mai 2022 an über 32.000 Versuchspersonen getestet, das war eine der größten repräsentativen Online-Befragungen, die es jemals gegeben hat.

Haben Sie bewusst nach Maßnahmen gesucht, die digital und für große Gruppen anwendbar sind?

Ja, wir wollten Ideen testen, mit denen man viele Leute gleichzeitig erreichen kann und bei denen es wahrscheinlich war, dass sie die Feindseligkeit – in der Wissenschaft sprechen wir von affektiver Polarisierung – wirklich verringern. Wir wollten einen Werkzeugkasten mit Interventionen entwickeln, der in der Praxis genutzt werden kann.

„Leute zu kategorisieren in Freund und Feind, das steckt tief in uns drin“

Und, was hilft am besten gegen die Polarisierung?

Ein Video, das von einem Bierunternehmen vor einigen Jahren gedreht wurde, hatte den größten Effekt. In dem kurzen Film sieht man sechs Menschen, die sich nicht kennen und die mithilfe einer Anleitung jeweils zu zweit eine Bar aufbauen sollen. Sie verstehen sich gut. Erst am Ende erfahren sie, dass sie komplett andere Meinungen vertreten, zu Feminismus, Klimawandel, transgender. Trotzdem entscheiden sie sich dafür, an der Bar ein Bier miteinander zu trinken und über ihre Meinungen zu diskutieren. Sie reden sehr respektvoll miteinander.

Schon dieses kurze Video hat die Feindseligkeit bei den Zuschauenden reduziert?

Ja. Wir messen das auf einer Skala von 0 bis 100, also auf einer Art Gefühlsbarometer. 0 bedeutet: keine Feindseligkeit, 100: sehr viel. Die politische Feindseligkeit hat in den USA in den letzten 40 Jahren ungefähr um 25 Punkte zugenommen und liegt in unserer Studie im Durchschnitt bei 70, das ist wirklich sehr hoch. Bei denen, die das Video gesehen haben, sank die Feinseligkeit von 70 auf etwa 60, also merklich.

An was machen Sie die Feindseligkeit denn fest?

Zum einen bitten wir die Leute, ihre Gefühle gegenüber der anderen Partei zu beschreiben. Die Antworten reichen von „sehr kalt“ zu „sehr warm“. Je kälter das Gefühl, desto höher die politische Feindseligkeit. Zum anderen messen wir die Feindseligkeit auch im Verhalten. Dafür teilen wir jeder Versuchsperson jemanden der anderen politischen Seite zu. Dann geben wir der Versuchsperson 50 Cent. Sie kann entscheiden, wie viel Geld sie mit der anderen Person teilt. Je mehr die Versuchsperson für sich behält, desto höher die politische Feindseligkeit.

Die Intervention: In einem digitalen Quiz soll man mithilfe eines Online-Partners aus dem anderen Lager zwölf Fragen beantworten, etwa zu sozialen Bewegungen, zu TV-Shows oder zur Bibel. In einem ersten Schritt muss man aus vier Optionen selbst eine auswählen. In einem zweiten Schritt werden einem die Antworten des Partners angezeigt und wie sicher er oder sie sich ist. Anschließend kann man die eigene Antwort noch einmal anpassen und findet so mit höherer Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort.

Die Methode: Wer mit dem anderen Lager kooperiert, hat bessere Chancen zu gewinnen, man profitiert von Wissen in anderen Bereichen.

Der Effekt: Die politische Feindseligkeit ging um 4 Punkte zurück. Anti-demokratische Einstellungen wurden hingegen nicht signifikant reduziert.

Selbst testen? Hier geht's lang.

Ein Rückgang der Feindseligkeit von 70 auf 60 ist erfreulich. Ist so ein Effekt auch nachhaltig?

Natürlich reicht es nicht aus, ein Mal dieses Video zu schauen, um die Polarisierung in Luft aufzulösen. Wir haben einen Test gemacht zwei Wochen später, da war der Effekt nicht mehr so stark, der Unterschied in der Feindseligkeit lag nun noch bei ungefähr 4 Punkten. Aber den psychologischen Mechanismus dahinter kann man sich auch in anderen Situationen zunutze machen.

Wie genau funktioniert dieser Mechanismus?

Viele haben ein extremes Bild von Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der anderen Partei im Kopf. Ein Stereotyp, das häufig nicht dem Durchschnitt entspricht, das überzeichnet ist. Wenn man dann einen Menschen sieht, der einem sympathisch ist und trotzdem andere Meinungen vertritt, relativiert das dieses Bild, man kann eher wieder Verständnis füreinander entwickeln.

Andere Interventionen, die Sie getestet haben, zielten auf politische Inhalte ab, sie haben die Feindseligkeit nicht so stark verringert wie der Bierspot. Heißt das, man muss die Menschen emotional erreichen, nicht rational?

Die Tendenz, Leute zu kategorisieren in Freund und Feind, Ingroup und Outgroup, steckt tief in uns drin, wir machen das ganz automatisch. Fakten-basierte Argumente haben schon auch einen Effekt, das konnten wir in unserer Studie sehen. Aber am stärksten nahm die Feindseligkeit ab, wenn die Versuchspersonen mit sympathischen, nahbaren Menschen mit anderen politischen Einstellungen konfrontiert wurden.

Für Deutschland hieße das: Ein AfD-Wähler und beispielsweise eine Grünen-Wählerin müssten sich kennenlernen und am Ende entspannt ein Bierchen miteinander trinken. Das in einem Film zu zeigen könnte ziemlich inszeniert wirken.

Nicht unbedingt. Es gibt ja das Projekt „Deutschland spricht“

Die Intervention: In einem kurzen Video wird ein Text über Unruhen in Simbabwe eingeblendet. Es folgen bedrohliche Szenen: Man sieht einen Panzer auf der Straße, bewaffnete Militärs, ein brennendes Auto, flüchtende Menschen. Die Ausschnitte sind unterlegt mit düsterer Musik. Es folgen ähnliche Bilder aus Venezuela, Russland und der Türkei, jeweils versehen mit dem Hinweis, dass das jeweilige Land nicht mehr als Demokratie erachtet wird. Zum Schluss sieht man Szenen des Sturms auf das Kapitol in Washington im Januar 2021.

Die Methode: Mit dem Video wird Angst geschürt, dass die Demokratie auch in den USA zusammenbrechen könnte.

Der Effekt: Die politische Feindseligkeit ging um 5 Punkte zurück. Die Unterstützung für antidemokratische Maßnahmen ging ebenfalls um 5 Punkte zurück. Allerdings gab es einen Bumerang-Effekt, der die Unterstützung für politische Gewalt um 2 Punkte erhöhte. Dieser Effekt trat allerdings nur bei konservativen Re­pu­bli­ka­ne­r*in­nen auf, vermutlich, weil diese den Sturm des Kapitols nicht als Angriff auf die Demokratie wahrnehmen.

Sie wollen das selbst testen? Hier geht's lang.

… eine Initiative der Zeit, bei der Menschen mit gegensätzlichen Meinungen zum Gespräch vermittelt werden. Seit 2017 haben sich mehr als 90.000 dafür angemeldet.

Ein Kollege von mir hat das wissenschaftlich begleitet. Er konnte nachweisen, dass die Gespräche die affektive Polarisierung verringern. Meist laufen diese Begegnungen auch gut ab, viele beschreiben das als positives Erlebnis. Aber klar, da hat man nur Menschen dabei, die den Austausch wollen.

Wenn die Leute solche Begegnungen nicht nur im Video sehen, sondern selbst erleben, ist der Eindruck sicherlich bleibender.

Ja, die Effekte sind bestimmt stärker. Gleichzeitig ist die Hürde höher. Es ist viel einfacher, die Menschen dazu zu kriegen, sich eine Bierwerbung anzuschauen, als an einem kontroversen Gespräch teilzunehmen. Das kann verunsichern.

Ein respektvoller und freundlicher Austausch, ob im Video oder in echt, scheint ein Schlüssel zu sein für weniger Feindseligkeit. Aber kann man wirklich mit allen freundlich reden? Wo sind die Grenzen eines respektvollen Dialogs?

Das hängt vom eigenen Ziel ab. Meine Forschungsgruppe hat zum Beispiel die Frage untersucht, wie sich die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe erhöhen ließe. Nun kann man sagen: Wer gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ist, der ist gegen das Prinzip Gleichheit für alle. Das ist für mich ein so wichtiger Grundwert, wenn jemand den nicht akzeptiert, will ich nichts mit ihr oder ihm zu tun haben, ich möchte so eine Position durch ein Gespräch nicht auch noch legitimieren.

Weil dieser Grundwert nicht verhandelbar ist.

Ja, das könnte ich auch total nachvollziehen. Wenn aber das Ziel ist, Meinungen zu verändern, eine größere Offenheit für die gleichgeschlechtliche Ehe herzustellen, dann kann ein Austausch schon hilfreich sein. Und auch, die andere Seite erst einmal zu verstehen, um sie dann bei ihren eigenen Werten abzuholen.

Die Intervention: Eine ruhige Männerstimme führt in einem achtminütigen Audio-Track durch eine Meditation. Die Stimme sagt, dass es wichtig sei, sich gut um sich selbst zu kümmern, sich selbst zu lieben, aber auch alle anderen Wesen auf dem Planeten. Dass man freundlich sein soll zu anderen, zu den Liebsten, aber auch zu jenen, die man schwierig findet.

Die Methode: Die Zuhörenden sollen sich entspannen, es soll eine positive Grundhaltung erzeugt werden.

Der Effekt: Die politische Feindseligkeit ging um 5 Punkte zurück. Anti-demokratische Einstellungen wurden nicht signifikant reduziert.

Selbst anhören? Hier geht's lang.

Was heißt das konkret?

In der Studie wurde festgestellt, dass es nicht viel bringt, bei der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe mit Gleichheit oder Fairness zu argumentieren. Effektiver ist es zu erklären, dass auch viele Homosexuelle im amerikanischen Militär gedient haben, dass viele von ihnen patriotische Amerikaner sind. Das hat die Unterstützung für die gleichgeschlechtliche Ehe bei konservativen Amerikanern eher erhöht, weil Patriotismus für sie ein wichtiger Wert ist. Aber klar, da muss jeder für sich abwägen: Finde ich es okay, mit Werten zu argumentieren, die ich vielleicht selbst gar nicht teile?

Wenn man auf Patriotismus setzt, hebt man die gemeinsame Nationalität hervor. Hilft so etwas auch gegen Polarisierung?

Ja. Verbindendes zu betonen ist auch eine Strategie, die gut funktionieren kann. Bei einer Intervention unserer Studie bekamen die Versuchspersonen einen Text zu lesen, in dem beschrieben wurde, dass sowohl Republikaner als auch Demokraten Teil einer erschöpften Mehrheit sind, die die Polarisierung ablehnt, dass es ihnen also eigentlich ähnlich geht. Die Feindseligkeit nahm dadurch fast so stark ab wie beim Biervideo. Gemeinsame Identitäten hervorzuheben kann sehr effektiv sein.

Allerdings können dabei erneut Menschen ausgeschlossen werden. Wenn man die Nationalität betont, gehören Ausländer nicht dazu. Schafft man so nicht wieder Gräben, nur eben andere?

Man muss da sehr aufpassen. Die Ablehnung gegenüber Ausländern haben wir in unserer Studie nicht erhoben, es kann sein, dass es unerwünschte Effekte gab. Wobei man dazusagen muss: Die nationale Identität in den USA ist, anders als in Deutschland, nicht unbedingt exklusiv. Die USA sind ein Land von Einwanderern. Viele Amerikaner sagen: Das genau ist unsere Geschichte, ein solches Verständnis von Nationalität schließt Ausländer nicht per se aus.

Die Intervention: In einem Chat werden einem von einem Chatbot Fragen gestellt, wie man die Positionen von Republikanern und Demokraten zu verschiedenen Themen einschätzt. Etwa zum Waffenbesitz: Wo liegt ein durchschnittlicher Republikaner, wenn es darum geht, Waffen komplett freizugeben (100) oder sie ganz zu verbieten (0)? Der Chatbot löst anschließend auf: Bei 74. Es folgen Fragen zu Migration und Klimawandel.

Die Methode: Der Chatbot liefert repräsentative Fakten zu den Positionen der anderen Seite und kann so überzeichnete Stereotype korrigieren.

Der Effekt: Die politische Feindseligkeit ging um 4 Punkte zurück. Antidemokratische Einstellungen wurden nicht signifikant reduziert.

Selbst ausprobieren? Hier geht's lang.

Einige Ihrer getesteten Maßnahmen helfen mehr gegen Feindseligkeit, andere mehr gegen antidemokratische Einstellungen. Was war hier besonders erfolgreich?

Um antidemokratische Einstellungen zu verringern, sollte man am besten explizit über Demokratie reden. Sehr effektiv war es, die Leute in einem Quiz einschätzen zu lassen, wie antidemokratisch die andere Seite ist. Da haben die meisten wieder Bilder im Kopf, die zu extrem sind. Sie glauben, dass die Gegenseite viel eher gegen die demokratischen Spielregeln verstoßen würde, als das tatsächlich der Fall ist. Diese Stereotype sind toxisch für die Demokratie. Häufig unterstützen Leute ja nur deshalb ein antidemokratisches Vorgehen, weil sie Angst haben, dass die andere Seite das auch tut. So etwas kann sich hochschaukeln. Wenn man darüber aufklärt, wie es wirklich ist, reduziert das die antidemokratischen Einstellungen.

Wie deutlich war der Effekt in Ihrer Studie?

Die politische Feindseligkeit ging um 6 Punkte zurück, ebenso die Unterstützung für antidemokratische Maßnahmen. Die Unterstützung für politische Gewalt verringerte sich um 2 Punkte.

Wenn das Problem vor allem überzeichnete Feindbilder sind, heißt das ja, dass die Polarisierung eine Frage der Wahrnehmung ist.

Es gibt in der Forschung den Begriff der falschen Polarisierung. Der besagt, dass die wahrgenommene Polarisierung politischer Gruppen stärker ist als deren tatsächliche Polarisierung.

„Dadurch, dass man die Welt als polarisiert wahrnimmt und auch erst mal an die extremsten Vertre-ter*innen der anderen Seite denkt, polarisiert man sich selber“

Der Soziologe Steffen Mau betont gerne, dass die Einstellungen der Deutschen etwa zu Migration, sexueller Identität oder zum Klimawandel gar nicht so weit auseinander liegen. Das ist das, was Sie die tatsächliche Polarisierung nennen?

Genau. Die falsche Polarisierung führt allerdings dazu, dass auch die tatsächliche Polarisierung stärker wird. Das ist an der aktuellen Situation so tragisch: Dadurch, dass man die Welt als polarisiert wahrnimmt und auch erstmal an die extremsten Ver­tre­te­r*in­nen der anderen Seite denkt, polarisiert man sich selber, auch wenn man das eigentlich gar nicht will …

Die Intervention: In einem vierminütigen Video erklärt eine Männerstimme, dass liberale wie konservative Amerikaner unter den stagnierenden Löhnen und steigenden Lebenshaltungskosten leiden. Dazu wird eine Grafik zur Lohnentwicklung eingeblendet, danach das Bild eines Mannes vor seinem Laptop, der erschöpft den Kopf hängen lässt. Nur die Klasse der Superreichen würde immer reicher, erläutert die Stimme. Man sieht Männer in dunklen Anzügen, sie halten Gläser in den Händen und schütten sich aus vor Lachen.

Die Methode: Verbindendes wird hervorgehoben. Das Video betont die gemeinsamen Interessen der unteren 99 Prozent und erzeugt möglicherweise auch Sozialneid oder Wut gegenüber Reichen.

Der Effekt: Die politische Feindseligkeit (zwischen Demokraten und Republikanern) ging um 1 Punkt (auf einer Skala bis 100) zurück. Antidemokratische Einstellungen wurden nicht signifikant reduziert.

Sie wollen es selbst ausprobieren? Hier geht's lang!

… was sich dann wiederum sehr real in Wahlergebnissen niederschlagen kann. Wenn wir uns in die Polarisierung ein Stück weit hineingeredet haben, können wir sie auch wieder wegreden?

Man kann versuchen, den Leuten zu zeigen, was die meisten anderen wirklich glauben und wollen. Eine wichtige Rolle kommt auch Po­li­ti­ke­r*in­nen zu. Wir hatten in unserer Studie ein Video der beiden Kandidaten, die im Jahr 2020 für den Posten des Gouverneurs von Utah angetreten sind. In dem gemeinsamen Spot sagen sie, dass sie beide an einem friedlichen Übergang von der jetzigen zur nächsten Regierung interessiert sind, dass sie an die demokratischen Werte glauben. Das hat die antidemokratischen Einstellungen in unserer Studie um 2 Punkte reduziert, auch die Unterstützung politischer Gewalt ging zurück. Po­li­ti­ke­r*in­nen können hier eine Vorbildfunktion haben.

Eine Möglichkeit, Ihre Werkzeuge in der Praxis anzuwenden. Wer könnte sie noch nutzen?

Unsere Forschungsgruppe arbeitet mit vielen Organisationen zusammen, die sich gegen die Polarisierung engagieren. Denen helfen wir, die psychologischen Mechanismen, die wir bei unseren Interventionen gesehen haben, in ihren Kontext einzubauen. Außerdem treten wir an die politischen Eliten heran und versuchen Kampagnen zu starten, um die Ergebnisse unserer Studie bekannter zu machen. Wenn mehr Leute wissen, welche Mechanismen gegen Polarisierung helfen, könnte das ein Stück weit auch den politischen Diskurs verändern.

Kann auch jede und jeder den Werkzeugkasten im Alltag nutzen, etwa bei Familienbesuchen?

Absolut. Wenn Sie sich trotz politischer Differenzen eine gute Beziehung mit der Familie erhalten möchten, sollte Sie sich auf das fokussieren, was Sie an Eltern, Geschwistern und Verwandten lieben und was Sie mit ihnen gemeinsam haben. So ein positiver Kontakt mit politisch Andersdenkenden ist dann auch eine tolle Möglichkeit, eigene Stereotype zu hinterfragen und die Stereotype anderer abzubauen. Dann denken die vielleicht beim nächsten Mal, wenn sie die Nachrichten hören, nicht nur an die extremen Ver­tre­te­r*in­nen Ihrer Partei, sondern auch an Sie.

Das Interview entstand im Rahmen eines Gastaufenthalts der Autorin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.