Geflüchtete in Armenien: Unterschlupf im Luxushotel
Der Krieg um Bergkarabach treibt immer mehr Menschen nach Armenien. Die Hauptstadt Jerewan platzt aus allen Nähten. Unterkünfte sind Mangelware.
Ende September 2020 ist der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien eskaliert – wieder einmal. Es sind die schwersten Kämpfe seit Jahrzehnten. Bislang wurden mehr als 604 Soldaten auf armenischer Seite getötet. Aserbaidschan macht bislang keine Angaben zu den Opfern und hält die Zahl eigener Verluste unter Verschluss.
Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet Bergkarabach, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik Aserbaidschan zugeschlagen worden war, schwelt seit über 30 Jahren.
In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe etwa 150.000 Menschen. Viele Ortschaften sind mittlerweile jedoch verwaist. Die Männer sind an der Front. Frauen und Kinder verstecken sich in Bunkern in der Hauptstadt Stepanakert.
Narine Davtyan, Hotelmanagerin
Tausende Einwohner*innen sind nach Armenien geflohen. Dort versuchen viele Menschen auf eigene Faust, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Sie mieten Wohnungen oder sind in Ferienhäuser ihrer Verwandten gezogen.
Viele Armenier*innen haben Geflüchtete auch bei sich zu Hause aufgenommen. Über Facebook melden sich Nutzer*innen, die entweder ein Zimmer brauchen oder ein Zimmer zur Verfügung stellen wollen. Auch einige Hotels bieten ihre Zimmer an.
Das Nova Hotel Yerevan meldete sich bereits einen Tag nach dem Beginn der Gefechte am 27. September und beherbergt seitdem Frauen, Kinder und ältere Menschen.
„Wir sind überfordert, doch wir tun, was wir können, und das von ganzem Herzen“, sagt Narine Davtyan. Die 25-Jährige ist Managerin des Hotels, das einer Familie gehört, die vor zwei Jahren von den USA nach Armenien gezogen ist. Auch Bürger*innen würden freiwillig helfen, erzählt Davtyan. Sie sammelten Kleidung und Hygieneartikel für die Hotelbewohner*innen. Einige Restaurants lieferten unentgeltlich Lunchpakete und andere Lebensmittel.
Begrenzte Ressourcen
Wie lange kann das so weitergehen? „Unsere Ressourcen sind begrenzt und wir werden bald Probleme bekommen“, sagt Narine Davtyan. „Wenn die Regierung keine grundsätzliche Lösung findet, können wir unsere freiwillige Arbeit irgendwann nicht mehr fortsetzen“, sagt sie. Auch humanitäre Hilfe aus dem Ausland wäre eine wichtige Unterstützung.
Jerewan ist bereits jetzt komplett überlastet. Es ist unmöglich geworden, eine Wohnung zu mieten. Damit sich geflüchtete Menschen nicht alle in der Hauptstadt drängen, versucht das Ministerium für Arbeit und Soziales für die Neuankömmlinge in den Regionen eine Unterkunft zu finden. Dort gibt es aber allenfalls in öffentlichen Einrichtungen noch Kapazitäten. Einige Familien übernachten derzeit in Schulen.
In der Stadt Tscharenzawan, etwa 40 Kilometer von Jerewan entfernt, sind etwa 400 Familien untergekommen und das dichtgedrängt auf engstem Raum. In einer Vierzimmerwohnung leben 20 Menschen zusammen.
Auch die 64-jährige Rosa Amirjan wohnt jetzt hier. Ihre Söhne und Enkel kämpfen an der Front. Ihre Hühner und Kühe hat sie in einem Stall, im Garten ihres Hauses in Bergkarabach zurückgelassen. „Egal, ob mein Haus dem Erdboden gleichgemacht wird oder nicht, ich möchte wieder zurück“, sagt sie. Mehr will sie über den Krieg nicht sagen. „Wir warten“, sagt sie. Auf Frieden warten in dieser Wohnung alle, eine 22-Jährige mit ihrem Mann, mehrere Frauen, eine Schwangere und viele Kleinkinder und Babys.
Keine speziellen Förderprogramme
Noch gibt es keine speziellen Förderprogramme für die geflüchteten Menschen aus Bergkarabach. Armenien konzentriert seine ganzen Ressourcen auf den Krieg – Zeit, Personal und Geld. „Mit den realen sozialen Problemen werden wir uns erst nach einem Friedensschluss systematisch beschäftigen können“, sagt Sona Martirosyan, Pressesprecherin des Ministeriums für Arbeit und Soziales gegenüber der taz.
Das hängt nicht nur von der Situation an der Front ab. Im Fall einer Niederlage bleiben die Menschen in Armenien. Im Falle eines Sieges können sie sowieso nicht in ihre Häuser in Bergkarabach zurückkehren, weil fast alles zerstört ist.
Martirosyan hat bereits 600 freiwillige Arbeitskräfte für Wiederaufbauarbeiten in Bergkarabach registriert. „Wir müssen alles neu errichten und das möglichst schnell“, sagt sie. Und wenn Bergkarabach für die Armenier*innen verlorengeht? Zu diesem Szenario möchte sich Martirosyan lieber nicht äußern.
Unterdessen begeben sich immer mehr Menschen auf die Flucht. Bereits Anfang der 1990er Jahre, als der Krieg zum ersten Mal ausgebrochen war, wurden unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen auf beiden Seiten getötet sowie über 1,1 Millionen aus ihren Heimatorten vertrieben. Wie viele werden es dieses Mal sein?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins